I. Einleitung
Der Völkermord oder Genozid wird immer wieder als das schwerste aller denkbaren Verbrechen überhaupt bezeichnet („crime of crimes“). Auch die Folgen dieses Verbrechens sollen dementsprechend drastisch sein. Im Umkehrschluss bedarf die Prüfung des Tatbestands besonderer Sorgfalt, denn der Vorwurf, das schwerste aller denkbaren Verbrechen begangen zu haben, darf nicht übereilt ausgesprochen werden. Es bedarf insbesondere der Klärung der Begrifflichkeiten sowie des Rechtsguts, das der Völkermord überhaupt schützen soll.
II. Begriff: Völkermord
Gerade im deutschsprachigen Bereich (vgl. § 6 VStGB) wird weithin landläufig der Begriff Völkermord für besonders schwere Verbrechen an Bevölkerungsgruppen verwendet. Genau genommen ist dieser Begriff missverständlich. Denn der Turnus des Völkermords legt nahe, dass zur Verwirklichung des Tatbestandes tatsächlich eine gesamte, zum Beispiel ethnische Gruppierung ausradiert werden muss.
Vielmehr kann der Tatbestand auch dann bereits verwirklicht sein, wenn lediglich ein Angriff, auch schon im Versuchsstadium, gegen die Existenz oder den Bestand einer gewissen Gruppierung vorliegt. Die Gruppierung muss darüber hinaus nicht ein Volk im umgangssprachlichen Sinne darstellen.
Korrekter erscheint der auch im IStGHSt verwendete Begriff des Genozids („genocide“), der die mögliche Bandbreite der Tatbestandsverwirklichungen eher verdeutlicht. Geprägt wurde die Begrifflichkeit des Genozids oder Völkermordes durch den Polen Rafa Lemkin, der damit die Verbrechen der Nationalsozialisten an den europäischen Juden in einen juristischen Begriff zu fassen versuchte.
III. Rechtsgut des Völkermordes
Wie bei jedem normalen nationalen Straftatbestand auch, ist eine entscheidende Frage, welches Rechtsgut von der zu prüfenden Vorschrift geschützt werden soll. Bezogen auf den Völkermord ist dies in Rechtsprechung und Literatur durchaus nicht unstrittig.
Die ganz herrschende Meinung geht davon aus, dass der Völkermord den Schutz kollektiver Rechtsgüter bezweckt, also nicht den Schutz Einzelner, sprich von Individualrechtsgütern. Das heißt konkret, dass die physische und/oder soziale Existenz einer gesamten Gruppe zumindest bedroht sein muss. Bei anderen Taten, die an Einzelnen verübt werden, auch wenn sie aufgrund ihrer Zugehörigkeit zu einer Gruppe gehören, sollen die nationalen Tötungsvorschriften gelten.
Anders sieht dies eine gut vertretbare Mindermeinung, die auch Individualrechtsgüter geschützt sieht. Sie begründet diese Ansicht damit, dass letztlich der Unterschied darin liege, ob ein Einzelner lediglich aufgrund seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppe einem Übel ausgesetzt wird. Spielen andere Motive als diese Zugehörigkeit keine Rolle, soll der Völkermordtatbestand erfüllt sein.
Am Ende sind beide Ansichten gut vertretbar. Argumentatorisch scheint die Mindermeinung dahingehend einleuchtender zu sein, dass gerade die Objektivierung und Reduzierung des Individuums auf seine Zugehörigkeit den Kern auch einer massenhaften Verfolgung einer Gruppe ausmacht. Darüber stellt sich die Frage, wie man begründet, dass bei einer Einzeltat die Motivfrage nach der herrschenden Meinung keine Rolle spielen kann, bei einer Mehrfachtötung aber das Motiv letztlich den Unterschied zum Völkermord machen kann.
Für die herrschende Meinung spricht die Geschichte, also die massenhafte Tötung von Gruppenangehörigen, des Völkermordes, sowie dessen Tragweite, die eine zurückhaltende Anwendung des Tatbestands ratsam erscheinen lassen.
IV. Geschützte Gruppierungen
Elementar wichtig und in der Praxis sowie in der Klausursituation schwierig zu klären, ist die Frage danach, wann und unter welchen Voraussetzungen eine Gruppe vom Völkermordtatbestand geschützt sein soll.
Dabei gibt es unstrittig geschützte Personenkreise, aber auch denkbar schwammige Abgrenzungen. Geschützt sind jedenfalls nationale Gruppen, also solche Personenkreise, die allein aufgrund ihrer Staatsangehörigkeit eine Gruppe darstellen.
Auch religiöse Gruppen, die ihren Glauben ausleben und pflegen sind weitestgehend unstrittig vom Tatbestand geschützt.
Das gleiche gilt auch für sogenannte rassische und ethnische Gruppen. Rassische Gruppen zeichnen dabei bestimmte, wissenschaftlich unbestreitbar vererbbare äußerliche Merkmale, wie beispielsweise die Hautfarbe aus. Ethnische Gruppierungen sind weit schwieriger zu umreißen. Dies sind Gruppierungen, die bestimmte kulturelle Traditionen und einen gemeinsamen historischen Kontext aufweisen.
Gerade für die Prüfung wichtig ist, dass diese Aufzählung abschließenden Charakter hat. Manche denkbaren Gruppierungen, wie zum Beispiel politische oder soziale sind somit nicht von der Norm geschützt. Dies betrifft auch andere Gruppierungen, wie beispielsweise Homosexuelle oder Menschen mit Behinderung, obwohl die Historie zeigt, dass auch diese Gruppen gezielter Verfolgung ausgesetzt werden können.
Dennoch ist eine Gruppe natürlich nicht lediglich an objektive Merkmalen festzumachen, vielmehr entsteht sie in der Realität häufig aus einer Zuschreibung durch andere, also einer subjektiven Wertung von außen. Viele solcher Gruppen, die durch die Völkermordsvorschrift nicht geschützt werden, werden aber durch die Vorschrift zu den Verbrechen gegen die Menschlichkeit vor Verfolgungen geschützt.
V. Tathandlungen
Neben den geschützten Rechtsgütern besteht ein jeder Tatbestand aus einer Reihe von Tathandlungen, die zur Erfüllung des Tatbestands vorliegen müssen.
Die erste denkbare Tathandlung ist die Tötung eines Gruppenmitgliedes. Auch die herrschende Meinung geht hier davon aus, dass es ausreicht, ein einziges Gruppenmitglied zu töten, um den Tatbestand zu erfüllen. Subjektiv muss aber die Tötung einer Mehrzahl gewollt sein.
Weiterhin kommt die Verursachung schweren körperlichen oder seelischen Schadens in Betracht. Gemeint sind hier beispielsweise die Verletzung von Organen, der Verlust des Augenlichts oder das Hervorrufen gravierender Behinderungen. Immer muss der Handlung dabei die Gefahr der völligen oder teilweisen Zerstörung der Gruppe innewohnen.
Die Auferlegung von zerstörerischen Lebensbedingungen ist die dritte denkbare Tathandlung. Diese besteht in der Schaffung von Lebensbedingungen, die die Existenz der Gruppe nachhaltig gefährden. Dies kommt teils in Betracht, wenn einzelne Gruppierungen beispielsweise nach einem Krieg in extrem unfruchtbares Land gedrängt werden, mit dem Motiv, dass sich die Gruppierung auf Dauer nicht mehr ernähren kann. Teilweise lag diese Situation bei den afrikanischen Kolonien vor.
Eine ähnliche Zielsetzung verfolgt die Verhängung von Maßnahmen zur Geburtenverhinderung, die durch Verbot von Fortpflanzung den Fortbestand der Gruppe verhindern soll. Aber auch weniger „politische“ Maßnahmen, wie Massenvergewaltigungen können diese Tathandlung verwirklichen.
Zuletzt kann es noch zur zwangsweisen Überführung von Kindern kommen, die den sozialen und biologischen Fortbestand der Gruppe gefährdet.
Bei allen Tathandlungen genügt es, wenn der Täter alleine vorgeht („genocidal maniac“). Er muss also nicht Teilnehmer einer großen Gesamttat sein.
VI. Subjektiver Tatbestand
Relativ unproblematisch ist, dass der Täter in jedem Falle den allgemeinen Tatbestandsvorsatz haben muss. Für den Völkermord muss jedoch auch eine spezifische Völkermordabsicht gegeben sein. Wie diese Absicht ausgestaltet ist, ist im Einzelnen umstritten.
Nach einer Ansicht soll objektiv danach gefragt werden, ob der Täter wissen musste, Teil der Verwirklichung eines Zerstörungsplans zu sein.
Die andere, überzeugendere Ansicht, verlangt die Absicht des Täters in einem klassischeren, also rein subjektiven Sinne.