I. Einführung
Die rechtfertigende Pflichtenkollision ist ein unterlassungsspezifischer Rechtfertigungsgrund, bei dem mehrere rechtliche Handlungspflichten konkurrieren und der Täter den Pflichtenwiderstreit nur so lösen kann, dass er die eine Pflicht auf Kosten der anderen Pflicht erfüllt.
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Unterlassungsspezifisch bedeutet, dass dieser Rechtfertigungsgrund nur bei Unterlassungsdelikten in Betracht kommt!
Bei der rechtfertigenden Pflichtenkollision handelt es sich zudem nicht um einen gesetzlich normierte, sondern einen gewohnheitsrechtlich anerkannte Konstellation. Die dogmatische Einordnung ist dabei umstritten. Nach der ganz herrschenden Meinung kann das Recht als Verhaltensordnung nichts Unmögliches verlangen. Erfüllt der Täter die eine der gleichwertigen Handlungspflichten auf Kosten der anderen, so muss die Rechtswidrigkeit entfallen in Bezug auf die vernachlässigte Handlungspflicht. Daher soll es sich um einen Rechtfertigungsgrund handeln. Nach anderer Ansicht handele es sich um einen Entschuldigungsgrund oder eine Art übergesetzlichen Notstand.
II. Prüfungsaufbau
1. Konfliktlage
a. Kollision von zwei Handlungspflichten
Eine Konfliktlage liegt vor, wenn an den Normadressaten mehrere rechtlich begründete Pflichten (z.B. elterliche Sorge gem. §§ 1626 ff. BGB) herantreten, er aber nur eine auf Kosten der anderen erfüllen kann.
Beispiel: Das Haus der F brennt. Darin befinden sich ihr Baby und ihre 5–jährige Tochter. F kann nur eines der beiden Kinder retten, ohne sich selbst in Lebensgefahr zu bringen. F entscheidet sich für das Baby.
F hat gegenüber beiden eine Garantenpflicht als Mutter (§§ 1626 ff. BGB). Sie ist daher beiden Kindern gegenüber zum Handeln verpflichtet. F treffen somit zwei Handlungspflichten, die miteinander kollidieren.
b. Rangverhältnis der Handlungspflichten
Der Täter handelt gerechtfertigt, wenn er entweder eine von zwei (oder mehreren) gleichrangigen oder die höherrangige Pflicht erfüllt.
Folgende Kriterien werden zur Bestimmung der Gleichwertigkeit der Handlungspflichten herangezogen:
- Wert der gefährdeten Rechtsgüter (z. B. Leben, Eigentum)
- rechtliche Stellung des Normadressaten zum geschützten Objekt (ist er Garant oder verletzt er eine bloße Hilfeleistungspflicht)
- Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts für das jeweilige Rechtsgut und seine Nähe zur Gefahr
In unserem Fallbeispiel handelt es sich bei den F obliegenden Handlungspflichten um solche, die aus ihrer Garantenstellung als Mutter gegenüber ihren Kindern entspringen. Beide Kinder drohen in den Flammen umzukommen, weshalb von einer Gleichwertigkeit der Handlungspflichten auszugehen ist.
Bei der Kollision von nicht gleichrangigen Pflichten gilt, dass Garantenpflichten nach § 13 StGB grundsätzlich höherwertig als schlichte Handlungspflichten sind. Bei einem Zusammentreffen von einer Garantenpflicht mit eine Hilfeleistungspflicht nach § 323c StGB ist der Tatbestand der unterlassenen Hilfeleistung schon nicht einschlägig, da keine Zumutbarkeit i.S.v. § 323c Abs. 1 StGB gegeben ist.
2. Erfüllung der einen Pflicht auf Kosten der anderen
Der Normadressat muss zudem eine Pflicht auf Kosten der anderen erfüllt haben. Indem der Täter eine Handlungspflicht wahrnimmt, verletzt er zwangsläufig die andere ihm ebenfalls obliegende Handlungspflicht.
In unserem Fallbeispiel verletzt die F die Handlungspflicht gegenüber ihrer Tochter, indem sie die Handlungspflicht gegenüber ihrem Baby wahrnimmt.
3. Subjektives Rechtfertigungselement
Der Täter müsste auch in Kenntnis der rechtfertigenden Umstände zur Abwehr der Gefahr gehandelt haben.