Der nachbarrechtliche Ausgleichsanspruch gem. § 906 Abs. 2 S. 2 BGB soll einen angemessenen Ausgleich in Geld gewähren, wenn Einwirkungen durch ortsübliche Benutzungen nach § 906 Abs. 2 S. 1 BGB geduldet werden müssen.
Dementsprechend stellt der Anspruch eine Kompensation für den Ausschluss der Ansprüche aus § 1004 BGB und § 862 BGB dar.
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Es ist nicht eindeutig geklärt, auf welche Rechtfertigung sich der Anspruch aus § 906 Abs. 2 S. 2 BGB berufen kann. Nach Ansicht der Rechtsprechung verlangt das nachbarrechtliche Gemeinschaftsverhältnis das bestehen eines Ausgleichsanspruchs. Die Literatur führt den Ausgleichsanspruch auf den Aufopferungsgedanken zurück.
Der nachbarrechtliche Ausgleichsanspruch gem. § 906 Abs. 2 S. 2 BGB steht in Konkurrenz zu Schadensersatz- und anderen Ausgleichsansprüchen. Das Deliktsrecht ist hingegen ausgeschlossen, da bei Vorliegen einer Duldungspflicht entsprechend kein rechtswidriger Eingriff gegeben sein kann.
§ 906 Abs. 2 S. 2 BGB ist ausgeschlossen, wenn eine abschließende Sonderregelung für den entsprechenden Sachverhalt vorhanden ist. So beispielsweise die §§ 74 ff. VwVfG (Planfeststellungsverfahren).
Prüfungsschema: § 906 Abs. 2 S. 1 BGB
1. Immission vom Nachbargrundstück
2. wesentliche Beeinträchtigung des Grundstücks des Anspruchstellers durch Immission
3. Störereigenschaft des Eigentümers oder Besitzers des anderen Grundstücks, § 1004 I
4. Duldungspflicht des Anspruchstellers, § 906 II 1
5. Beeinträchtigung des Grundstücks des Anspruchstellers über das zumutbare Maß hinaus
6. Anspruchsumfang
1. Immission vom Nachbargrundstück
Für den nachbarrechtlichen Ausgleichsanspruch gem. § 906 Abs. 2 S. 2 BGB muss eine Einwirkung vom Nachbargrundstück vorliegen.
Um als Nachbargrundstück zu gelten muss keine besondere räumliche Nähe zwischen dem störenden und dem gestörten Grundstück vorliegen.
Neben den in Abs. 1 explizit genannten Einwirkungen gelten auch noch sog. ähnliche Einwirkungen zu den Immissionen.
Eine positive Einwirkung liegt hierbei vor, wenn nicht ausdrücklich benannte Stoffe oder Körper die Grundstücksgrenze überschreiten.
Die genaue Abgrenzung von positiven Einwirkungen ist umstritten.
Nach der Rechtsprechung liegt eine ähnliche Einwirkung vor, wenn die Ausbreitung weithin unkontrollierbar und unbeherrschbar und in der Intensität schwankend ist. Dies trifft beispielsweise auf Kleinstkörper zu, nicht aber auf größere körperliche Gegenstände (sog. Grobimmissionen).
Nach anderer Meinung soll allein die schwankende Intensität der Einwirkung maßgebend sein.
2. Wesentliche Beeinträchtigung des Grundstücks des Anspruchstellers durch Immission
Durch die Immission müsste eine Beeinträchtigung der ortsüblichen Benutzung oder des Ertrags des Grundstücks des Anspruchstellers ausgelöst werden.
Wie auch die Duldungspflicht, die im Folgenden behandelt wird, soll die ortsübliche Nutzung privilegiert werden. Dementsprechend ist die wesentliche Beeinträchtigung auch nach den gleichen Maßstäben zu beurteilen wie die Duldungspflicht.
Allerdings ist nicht die ausgehende Immission, sondern die Empfindlichkeit des Grundstücks gegenüber der Immission der maßgebende Bezugspunkt.
Der häufigste Fall von Beeinträchtigung des Ertrags eines Grundstücks ist die Auswirkung auf Mieteinnahmen.

3. Störereigenschaft des Eigentümers oder Besitzers des anderen Grundstücks, § 1004 I
Der Eigentümer oder Besitzer des emittierenden Grundstücks muss Störer i.S.d. § 1004 BGB sein.
Definition: Störer ist derjenige, auf dessen Willen der beeinträchtigende Zustand zurückgeht und von dessen Willen die Beseitigung abhängt.
In Betracht kommen die Formen des Handlungs- oder Zustandsstörers:
Definition: Ein Handlungsstörer verursacht durch sein Verhalten die Eigentumsbeeinträchtigung.
Definition: Der Zustandsstörer übt die Herrschaft über eine gefahrbringende Sache aus, durch welche die Störung verursacht wird, wenn die Beseitigung der Störung vom Willen des Störers abhängt.
4. Duldungspflicht des Anspruchstellers, § 906 Abs. 2 S. 1 BGB
Der Anspruchsteller muss einer Duldungspflicht gem. § 906 Abs. 2 S. 1 BGB unterliegen.
Die Duldungspflicht kann Eigentümer und berechtigten Besitzer des gestörten Grundstücks treffen. Nach der Rechtsprechung wird die Pflicht auch auf bloße Benutzer ausgedehnt.
Damit eine Duldungspflicht gem. § 906 Abs. 2 S. 1 BGB besteht, muss die Beeinträchtigung durch eine ortsübliche Benutzung des anderen Grundstücks herbeigeführt werden und nicht durch Maßnahmen verhindert werden können.
a) Ortsüblichkeit
Der sachliche Bezugspunkt der Ortsüblichkeit einer Benutzung ist umstritten.
Nach einer Mindermeinung kommt es auf die Art der Benutzung an. Hierfür spricht der Wortlaut des § 906 Abs. 2 S. 1 BGB.
Nach herrschender Meinung kommt es hingegen auf die durch die Nutzung entstehenden Störungen und Auswirkungen an. Hierfür spricht der Zweck der Vorschrift: der Anspruchsteller soll sich auf bestimmte Immissionen durch die Nutzung eines Grundstücks einstellen können.
Ebenfalls umstritten ist der Maßstab nach dem die Ortsüblichkeit bewertet werden soll.
Nach der Mindermeinung soll die Ortsüblichkeit daran gemessen werden, ob bei dem betroffenen Grundstück eine ortsübliche Einwirkung „ankommt“.
Nach herrschender Meinung soll es darauf ankommen, ob die Abgabe der Immissionen des emittierenden Grundstücks als ortsüblich zu betrachten sind. Hierfür sprechen Wortlaut und Systematik der Vorschrift. Zudem muss die besondere Betroffenheit bereits im Rahmen der Wesentlichkeit und Zumutbarkeit in Abs. 2 S. 2 geprüft werden.
Um die Ortsüblichkeit zu ermitteln wird ein Vergleichsgebiet festgelegt.
Definition: Ein Vergleichsgebiet ist eine Mehrheit von Grundstücken in der Umgebung mit einer nach Art und Ausmaß einigermaßen gleichbleibenden Einwirkung.
Es kommt darauf an, ob eine störende Nutzung den Gebietscharakter prägt. Die absolute oder relative Anzahl an Grundstücken, die nach Art und Maßstab vergleichbare Immissionen verursachen, ist unerheblich. Auch ein einzelner, übergroßer Betrieb kann den Gebietscharakter prägen,
Grundsätzlich gilt das gesamte Gemeindegebiet als Vergleichsgebiet. Bei gleichartiger Benutzung in der näheren Umgebung und bei von anderen Ortsteilen unterschiedlichem Gepräge kann von dem Grundsatz abgewichen werden. Hier wird das Vergleichsgebiet auf ein engeres Gebiet begrenzt.
b) Wirtschaftliche Unzumutbarkeit der Verhinderung
Die Beeinträchtigung kann nicht durch Maßnahmen verhindert werden, wenn die zur Verhinderung notwendigen Maßnahmen nach Art der Benutzung wirtschaftlich unzumutbar wären.
Die Wirtschaftlichkeit bemisst sich hierbei an einem durchschnittlichen Nutzer des konkret emittierenden Grundstücks (differenziert-objektiver Maßstab). Die finanzielle Lage des tatsächlichen Nutzers ist unerheblich.
Es kommen nur Maßnahmen in Betracht, die die Beeinträchtigung unter die Schwelle der Wesentlichkeit senken würden.
5. Beeinträchtigung des Grundstücks des Anspruchstellers über das zumutbare Maß hinaus
Die vorliegende Beeinträchtigung muss zudem über das zumutbare Maß hinaus gehen.
Hierfür ist der Maßstab eines durchschnittlichen Benutzers maßgebend (differenziert-objektiver Maßstab).
Es findet eine Interessenabwägung mit den Gegeninteressen der Allgemeinheit und Dritter statt.
Der Bezugspunkt für das zumutbare Maß ist nicht die Lästigkeit der Beeinträchtigung, sondern die dadurch entstehenden Vermögensopfer des Betroffen. Dies ist damit zu begründen, dass es sich bei § 906 Abs. 2 S. 2 BGB um einen Ausgleichsanspruch und nicht um eine Duldungspflicht geht.
6. Anspruchsumfang
Ausgleichsberechtigt sind Eigentümer und berechtigter Besitzer des betroffenen Grundstücks.
Umstritten ist, ob der bloße Benutzer ebenfalls einen Ausgleichsanspruch gem. § 906 Abs. 2 S. 2 BGB geltend machen kann.
Nach Ansicht der Rechtsprechung scheitert ein solcher Anspruch daran, dass dem bloßen Besitzer schon kein Anspruch aus § 1004 BGB oder § 862 Abs. 1 BGB wegen Rechten an einem Grundstück zustehen kann. Der bloße Besitzer könnte lediglich ein Recht an bewegliche Sachen vorweisen, welches aber keinen nachbarrechtlichen Ausgleichsanspruch auslösen können soll.
Nach anderer Ansicht soll eine analoge Anwendung des Anspruchs aus § 906 Abs. 2 S. 2 BGB möglich sein, wenn der bloße Besitzer eine ähnlich enge Beziehung zum Immissionsgebiet hat wie ein Eigentümer.
Nach wiederum anderer Ansicht soll eine analoge Anwendung nicht nur bei einer eigentümerähnliche Beziehung, sondern für alle berechtigten Besitzer möglich sein.
Der Umfang des nachbarrechtlichen Ausgleichsanspruchs, § 906 Abs. 2 S. 2 BGB, ist ebenfalls umstritten.
Einer Ansicht nach soll die Berechnung nach den §§ 249 ff. BGB stattfinden.
Nach herrschender Meinung hingegen ist der Umfang des Ausgleichsanspruchs nach den Grundsätzen der Enteignungsentschädigung zu bemessen.
Zudem ist zu beachten, dass nur der unzumutbare Teil der Beeinträchtigung in Geld zu entschädigen ist.