Mutmaßliche Einwilligung
Bei der mutmaßlichen rechtfertigenden Einwilligung handelt es sich um die Konstellation, in der der Betroffene tatsächlich keine wirksame Einwilligung über den Eingriff in sein Rechtsgut zum Ausdruck gebracht hat. Dieses Rechtsprinzip ist gewohnheitsrechtlich anerkannt.
Das klassische Beispiel ist der bewusstlose Notfallpatient. Dieser ist nicht in der Lage, in die notwendige Operation (Körperverletzung) einzuwilligen. Daher muss ein möglicher mutmaßlicher Wille des Patienten angenommen werden.
1. Disponibles Rechtsgut
Ebenso wie bei der regulären rechtfertigenden Einwilligung muss der Betroffene über das betroffene Rechtsgut (meist die körperliche Unversehrtheit) verfügen können. Damit sind nur höchstpersönliche Rechtsgüter umfasst.
Zu verneinen ist es, wenn gerade kein Individualrechtsgut betroffen ist, sondern ein Allgemeinrechtsgut. Das klassische Beispiel sind Verkehrsdelikte, §§ 315 ff. StGB. Ein Einzelner kann nicht seinen Verzicht auf diesen Schutz erklären
Ein weiterer Versagungsgrund, ist die Grenze der Einwilligungssperren aus §§ 216, 228 StGB. Über das Leben als Rechtsgut kann nicht verfügt werden (§ 216 Abs 1 StGB), ebenso wie bei sittenwidrigen Körperverletzungen.
Merke: Eine mutmaßliche Einwilligung ist nur bei höchstpersönlichen Rechtsgütern zulässig.
2. Übereinstimmung mit dem hypothetischen Willen des Rechtsgutsinhabers zum Tatzeitpunkt
Im Unterschied zur rechtfertigenden Einwilligung fehlt es allerdings an einer Äußerung des wirklichen Willens. Daher tritt an dessen Stelle der sog. mutmaßliche Wille des Betroffenen. Der entscheidende Zeitpunkt für das Vorliegen des mutmaßlichen Willens ist derjenige des Eingriffs in das Rechtsgut.
Um den mutmaßlichen Willen zu ermitteln, wird auf alle Umstände des Einzelfalls abgestellt. Grundsätzlich ist nach der objektiven Interessenlage zu entscheiden. Sollten allerdings frühere Willensbekundungen bekannt sein, kommt diesen erhebliche Indizwirkung zu.
Liegt eine Patientenverfügung vor, ist der darin enthaltene Wille bei Ermittlung des mutmaßlichen Willens maßgeblich zu berücksichtigen. Diese ist auch für die Fälle der Sterbehilfe durch Behandlungsabbruch von großer Bedeutung.
Wie der mutmaßliche Wille jedoch im Einzelfall zu ermitteln ist, ist umstritten.
Nach der h.M. wird der ex ante erkennbare Wille als Grundlage herangezogen.
Im Gegensatz dazu wird aufgeführt, dass der tatsächliche Wille des Betroffenen stets im objektiven Tatbestand zu berücksichtigen ist, da dieser ja objektiv feststeht. Wenn der Patient etwa keine Blutspenden aufgrund seiner Religionszugehörigkeit annimmt, ist dies ein objektives Merkmal. Wenn der Arzt dies nicht erkennen konnte, kann dies nur im subjektiven Rechtfertigungstatbestand Berücksichtigung finden. In Betracht kommt meistens ein unvermeidbarer Erlaubnistatbesandsirrtum.
Zusammenfassend: Die Ermittlung des mutmaßlichen Willens
3. Einwilligungsfähigkeit
Damit ist gemeint, dass der Einwilligende nach geistiger und sittlicher Reife imstande sein muss, die Bedeutung und Tragweite seiner Entscheidung zu erkennen und sachgerecht zu beurteilen. Entscheidend ist der Einzelfall, nicht ausschließlich das Alter.
4. Subsidiarität – Keine wirksame Willensentscheidung des Rechtsgutsinhabers
Eine mutmaßliche Einwilligung kommt natürlich nur in Betracht, wenn die tatsächliche Einwilligung des Betroffen uneinholbar war. Wäre es möglich, dass der Betroffene eine tatsächliche Einwilligung abgibt, kann der Täter nicht wegen einer mutmaßlichen Einwilligung gerechtfertigt sein. Daher sind Operationen, welche später mit gleichen Erfolgsaussichten erfolgen können, aufzuschieben, sofern davon ausgegangen werden kann, dass der Patient aktiv einwilligen kann.
Prüfungsschema
- I. Objektiver Erlaubnistatbestand
- 1. Disponibilität des Rechtsguts
- a) Individualrechtsgut
- b) Allgemeinrechtsgut
- 2. Übereinstimmung mit dem hypothetischen Willen des Rechtsgutsinhabers zum Tatzeitpunkt
- 3. Einwilligungsfähigkeit
- 4. Subsidiarität – Keine wirksame Willensentscheidung des Rechtsgutsinhabers
- II. Subjektiver Erlaubnistatbestand (Kenntnis der die objektiv rechtfertigenden Umstände)
Hypothetische Einwilligung
Die neuere Rechtsprechung hat neben der mutmaßlichen Einwilligung auch die Rechtsfigur der hypothetischen Einwilligung ins Leben gerufen.
Danach soll ein Arzt nur dann eine rechtswidrige Körperverletzung begehen, wenn der Patient bei korrekter Aufklärung nicht eingewilligt hätte.Um dies beurteilen zu können, sind gewisse Anhaltspunkte erforderlich. In dubio pro reo ist von einer Einwilligung auszugehen, solange der Patient nicht das Gegenteil beweisen kann. Dies wird damit begründet, dass es ansonsten an einem tatbestandlichen Erfolg mangele.
Hiergegen wird eingewendet, dass dies nicht vereinbar mit dem Selbstbestimmungsrecht des Betroffenen sei. Es sei eine Einwilligungsfiktion. Eine rein hypothetische Einwilligung muss bei der Beurteilung von Kausalität und objektiver Zurechnung außer Betracht bleiben.
Quellen
- Frister, Helmut: Strafrecht Allgemeiner Teil, 6. Auflage 2013.
- Wessels, Johannes / Beulke, Werner / Satzger, Helmut: Strafrecht Allgemeiner Teil, 44. Auflage 2014.