I. Allgemeines zur materiellen Rechtskraft
Die materielle Rechtskraft wird originär in § 322 I ZPO geregelt. Dort heißt es:
Urteile sind der Rechtskraft nur insoweit fähig, als über den durch die Klage oder durch die Widerklage erhobenen Anspruch entschieden ist.
Daraus lässt sich zunächst folgende Aussage entnehmen: Soweit ein Gericht bereits einmal über einen Anspruch entschieden hat, ist die Entscheidung hinsichtlich dieses Anspruchs rechtskräftig. Die materielle Rechtskraft nach § 322 ZPO erstreckt sich also auf den Inhalt eines Urteils und legt fest, in welchem Umfang das Gericht und die Parteien in einem erneuten Rechtsstreit um dieselbe Rechtsfolge an die rechtskräftige Entscheidung gebunden sind (vgl. § 325 I ZPO).
Voraussetzung für die materielle Rechtskraft eines Urteils ist die formelle Rechtskraft. Diese ist gegeben, wenn das Urteil nicht mehr mit Rechtsmitteln angegriffen werden kann (wenn also die Fristen für Berufung etc. abgelaufen sind). Hinter der materiellen Rechtskraft steht der Gedanke, dass sich Gerichte nur einmal mit einem Streitgegenstand befassen sollen.
II. Materielle Rechtskraft als Zulässigkeitsproblem
Die materielle Rechtskraft ist eine sog. negative Sachurteilsvoraussetzung, sie darf also nicht gegeben sein, sonst ist die Klage schon unzulässig.
Dies ist zum Einen der Fall, wenn der im rechtskräftigen Urteil unterliegende Kläger den identischen Streitgegenstand ein zweites Mal einklagt.
Zum anderen gilt dies aber auch, wenn der im rechtskräftigen Urteil verurteilte Beklagte die Leistung, zu deren Erfüllung er verurteilt worden ist, in einer neuen Klage zurückfordern will.
Zur Verdeutlichung folgendes Beispiel:
A wird am 10.03. rechtskräftig zu einer Kaufpreiszahlung i.H.v. 2000 Euro an B verurteilt. Nachdem er dem B die 2000 Euro gezahlt hat, erhebt er am 10.05. Klage gegen B auf Rückzahlung der 2000 Euro aus § 812 I 1 1.Alt BGB. Er begründet dies damit, dass dem B der Kaufpreisanspruch nicht zusteht, da kein wirksamer Kaufvertrag zustande kam.
In einem solchen Fall steht der Zulässigkeit der Klage des A die Rechtskraft des ersten Urteils entgegen, in dem rechtskräftig entschieden wurde, dass ein wirksamer Kaufvertrag besteht. Genau genommen liegt zwar kein identischer Streitgegenstand vor (Streitgegenstand im ersten Verfahren: Anspruch B gegen A ; Streitgegenstand im zweiten Verfahren: Anspruch A gegen B).
Dennoch nimmt die h.M. hier im Ergebnis einen identischen Streitgegenstand an, da eine Identität im Sinne eines „kontradiktorischen Gegenteils“ vorliegt: In beiden Klagen geht es um den Kaufvertrag zwischen A und B.
III. Materielle Rechtskraft als Begründetheitsproblem
Schließlich kann die materielle Rechtskraft auch dazu führen, dass eine Klage unbegründet ist. Denn auch wenn kein identischer Streitgegenstand vorliegt und die Klage damit zulässig ist, ist das Gericht in einem späteren Verfahren an die im ersten Urteil getroffenen Feststellungen gebunden und kann über diese nicht mehr entscheiden.
Bsp.: Es ergeht ein rechtskräftiges Feststellungsurteil, dass ein Kaufvertrag zwischen A und B nicht besteht. Dennoch erhebt B Leistungsklage auf Schadensersatz statt der Leistung, §§ 280 I, 281 BGB. Der Richter im zweiten Verfahren ist an die rechtskräftige Feststellung gebunden, dass ein Kaufvertrag zwischen den Parteien nicht besteht. Damit fehlt es an einem Schuldverhältnis i.S.d. § 280 I BGB, sodass B keinen Anspruch hat und die Klage unbegründet ist.
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IV. Reichweite der materiellen Rechtskraft
Die materielle Rechtskraft und die durch sie ausgelöste Bindungswirkung ist nicht unbeschränkt. Nach § 322 I ZPO beschränkt sich jede Rechtskraftwirkung eines Urteils auf den Streitgegenstand des Vorprozesses (und sein kontradiktorisches Gegenteil). Eine solche Beschränkung hat der Gesetzgeber ausweislich des Wortlautes des § 322 ZPO herbeiführen wollen:
Urteile sind der Rechtskraft nur insoweit fähig, als über den (…) erhobenen Anspruch entschieden ist.
Die Rechtskraft beschränkt sich also auf den Tenor des Urteils. Die tatsächlichen und rechtlichen Feststellungen, die in den Urteilsgründen getroffen worden sind, binden spätere Verfahren also nur, soweit der gegen diese Feststellungen gerichtete Angriff zugleich die im Tenor ausgesprochene Rechtsfolge in Frage stellt.

Bsp.: A wird am 10.03. rechtskräftig verurteilt 2000 € Reparaturkosten an B, aus Verkehrsunfall, zu zahlen, da er den Unfall allein verschuldet hat. Nachdem A dem B die 2000 € gezahlt hat, erhebt B am 10.05. Klage gegen A auf Zahlung weiterer 1000 € aus demselben Verkehrsunfall. Er begründet seine Klage damit, dass er auch Anspruch auf Schmerzensgeld wegen des Unfalles habe, da er ein Schleudertrauma erlitten habe.
Hier ist das Gericht insoweit an das erste Urteil gebunden, als dass bereits festgestellt ist, dass A den Unfall allein verschuldet hat. Es ist aber frei in der Prüfung, ob der B ein Schleudertrauma erlitten hat und wenn ja, ob der Unfall dafür ursächlich war. Diese Gesichtspunkte wurden im Vorprozess noch nicht geprüft und nicht rechtskräftig festgestellt. Insoweit besteht also keine Bindungswirkung. Käme das Gericht aber zu dem Ergebnis, dass das Schleudertrauma besteht und das der Unfall dafür ursächlich ist, ist es gehindert eine Quote auszuwerfen, da im ersten Urteil bereits entschieden wurde, dass nur A haftet.