Missbrauch der Vertretungsmacht vs. falsus procurator
Zunächst einmal darf der Missbrauch der Vertretungsmacht nicht mit dem falsus procurator, also dem Vertreter ohne Vertretungsmacht verwechselt werden. Der falsus procurator handelt im Außenverhältnis (also gegenüber dem Rechtsverkehr) ohne Vertretungsmacht. Damit ist seine Erklärung grundsätzlich nicht geeignet, den Vertretenen gem. § 164 Abs. 1 BGB wirksam zu binden.
Beim Missbrauch der Vertretungsmacht überschreitet der Vertreter seine Befugnisse aus dem Innenverhältnis. Das Innenverhältnis ist das, was zwischen Vertreter und Vertretenem vereinbart wurde, z.B. Auftrag, Geschäftsbesorgung u.ä.
Klar, wird der Unterschied an einem Beispiel:
Variante 1: A beauftragt den B, für ihn das Gemälde „Stillleben“ im Antiquitätenladen des C zu kaufen. Dazu erteilt er ihm Vollmacht: „Bitte gehe für mich in den Laden und kaufe ein Bild.“ B sucht den Laden des C auf, kauft dort jedoch nicht das Gemälde „Stillleben“, sondern das Gemälde „Seeschlacht“, weil er der Meinung ist, dies würde dem A besser gefallen. Als B dem A das Gemälde überreicht, ist dieser sauer, und verlangt von C Rückgabe des Kaufpreises Zug-um-Zug gegen Herausgabe des Gemäldes.
In der ersten Variante handelt der B im Außenverhältnis zu C innerhalb der Vertretungsmacht: er geht in den Laden und kauft ein Bild. Allerdings widersetzt er sich den Abmachungen im Innenverhältnis, indem er nicht das Bild „Stillleben“ kauft. In einem solchen Fall handelt es sich um einen Missbrauch der Vertretungsmacht.
Variante 2: A beauftragt den B, für ihn das Gemälde „Stillleben“ im Antiquitätenladen des C zu kaufen. Dazu ruft er den C, einen guten Freund, an und sagt ihm: „B kommt für mich in deinen Laden, um das Gemälde ‚Stillleben‘ zu kaufen.“ B kauft wiederum das Gemälde „Seeschlacht“. A verlangt von C die Rückgabe des Kaufpreises Zug-um-Zug gegen Herausgabe des Gemäldes.
In der zweiten Variante ist die Vollmacht des B (in Form der Außenvollmacht, § 167 Abs. 1, 2. Alt. BGB) begrenzt auf den Kauf des Gemäldes „Stillleben“. Indem er ein anderes Gemälde kauft, überschreitet er die Grenzen seiner Vollmacht und wird dadurch zum Vertreter ohne Vertretungsmacht.
Die Behandlung des Missbrauchs der Vertretungsmacht
1. Grundsätzliche Auswirkungen
Grundsätzlich steht der Missbrauch der Vertretungsmacht einer wirksamen Stellvertretung nicht entgegen. Dies lässt sich zum einen mit der Abstraktheit der Vollmacht begründen:
- Die Vollmacht und das zugrundeliegende Rechtsverhältnis sind zwei unabhängige, voneinander zu trennende Rechtsgeschäfte. Dies macht das Gesetz an mehreren Stellen deutlich, z.B. §§ 168 Abs. 2, 171 Abs. 2, 172 Abs. 2 BGB.
Zum anderen darf der Missbrauch der Vertretungsmacht aus Rechtsschutzgesichtspunkten keinen Einfluss auf die Wirksamkeit der Stellvertretung haben:
- Für den Vertragspartner (hier der C) ist es nicht erkennbar, ob der Vertreter im Innenverhältnis beschränkt ist. Er vertraut auf die bestehende Vollmacht und ist insoweit schützenswert. Schließlich trägt der Vertretene, der sich einer anderen Person zur Vertretung bedient, auch das Risiko dafür, dass sich diese Person an die Vorgaben aus dem Innenverhältnis hält.
Merke: Damit besteht, trotz Missbrauch der Vertretungsmacht, grundsätzlich Vertretungsmacht, sodass eine wirksame Stellvertretung unter den Voraussetzungen des § 164 Abs. 1 BGB möglich ist.
2. Ausnahmen: Kollusion und Evidenz
Wie so oft in der Rechtswissenschaft gibt es keinen Grundsatz ohne Ausnahme. Beim Missbrauch der Vertretungsmacht heißen diese Ausnahmen Kollusion und Evidenz.
a. Kollusion
Definition: Von Kollusion spricht man, wenn der Vertreter und der Dritte bewusst zum Nachteil des Vertretenen zusammenwirken.
In einem solchen Fall ist nicht der Dritte schutzwürdig, sondern der Vertretene. Die Folge ist, dass das abgeschlossene Rechtsgeschäft gem. § 138 Abs. 1 BGB nichtig ist.
b. Evidenz
Definition: Von Evidenz spricht man, wenn der Dritte den Missbrauch der Vertretungsmacht zwar nicht kannte, diesen jedoch hätte erkennen können und müssen.
Vereinfacht könnte man sagen, der Dritte hat seine Augen vor dem Offensichtlichen verschlossen. Im Falle der Evidenz gehen die Ansichten hinsichtlich der Rechtsfolge auseinander.
Der BGH vertritt die Ansicht, dem Vertretenen stehe wegen Rechtsmissbrauch die Einrede der unzulässigen Rechtsausübung aus § 242 BGB zu. Dies bedeutet, das geschlossene Rechtsgeschäft ist grundsätzlich wirksam, dessen Durchsetzbarkeit steht aber eine Einrede entgegen.
Nach Ansicht der Literatur ist § 177 BGB analog anzuwenden. Demnach ist das Rechtsgeschäft schwebend unwirksam und hängt von der nachträglichen Genehmigung des Vertretenen ab. Die Befürworter dieser Ansicht bringen vor, dass es dem Vertretenen möglich sein muss, ein ihm vorteilhaftes Rechtsgeschäft durch Genehmigung an sich ziehen zu können.
Letztlich hat er dieselbe Möglichkeit jedoch auch bei der Lösung des BGH. Schließlich steht es dem Vertretenen frei, ob er die Einrede geltend macht oder nicht. Die Ansichten unterscheiden sich also in ihrer Rechtsfolge nicht so sehr voneinander.
Machen Sie sich noch einmal klar, warum es diese Ausnahmen gibt: Der Vertragspartner ist in den Fällen von Kollusion und Evidenz weniger schutzwürdig, weshalb es unbillig ist, ihm einen wirksamen Vertrag bei Missbrauch der Vertretungsmacht zu gewähren.
Fazit
Der Missbrauch der Vertretungsmacht ist keineswegs unmachbar. Wichtig ist vor allem, die Abgrenzung zum falsus procurator zu verstehen und in einer Klausur zu erkennen, sowie die Behandlung von Kollusion und Evidenz zu beherrschen.