I. Hintergrund
Nach § 242 StGB wird derjenige bestraft, der einem anderen eine bewegliche Sache wegnimmt, um sie sich selbst oder einem anderen rechtswidrig zuzueignen. Die entscheidende Tathandlung ist demnach die Wegnahme.
Definition: Unter Wegnahme im Sinne des § 242 I StGB versteht man den Bruch fremden und die Begründung neuen, nicht notwendig eigenen, Gewahrsams gegen oder ohne den Willen des Gewahrsamsinhabers.
Die Wegnahme besteht also im Prinzip aus drei Elementen:
- Bruch fremden Gewahrsams
- Begründung neuen Gewahrsams
- gegen oder ohne den Willen des Inhabers
Daran lässt sich schon ablesen, welche entscheidende Bedeutung der Gewahrsamsbegriff im Rahmen der Prüfung der Wegnahmehandlung in einer Strafrechtsklausur hat.
Tipp: Die wichtigsten Examensprobleme rund um die Wegnahme haben wir in diesen Beiträgen gesondert erklärt: Teil 2 und Teil 3
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II. Der Gewahrsamsbegriff
Definition: Unter Gewahrsam versteht man die tatsächliche und vom Willen getragene Herrschaft über eine Sache, deren Reichweite sich nach der Verkehrsanschauung bestimmt.
Der Gewahrsamsbegriff besteht also ebenfalls aus drei Elementen:
- Tatsächliche Sachherrschaft
- Wille zur Sachherrschaft
- Reichweite der Sachherrschaft
1. Die tatsächliche Sachherrschaft
Definition: Tatsächliche Sachherrschaft ist gegeben, wenn jemand dergestalt die Herrschaftsgewalt über eine Sache hat, dass der Verwirklichung des Willens zur Einwirkung auf die Sache unter normalen Umständen keine wesentlichen Hindernisse entgegenstehen.
Diese Definition zeigt, dass es auf die tatsächliche Einwirkungsmöglichkeit auf die Sache ankommt; zivilrechtliche Eigentums- und Besitzverhältnisse sind insoweit nicht von Bedeutung. Dies zeigt sich insbesondere am Besitzdiener (§ 855 BGB): in zivilrechtlicher Hinsicht hat der Besitzdiener keinen Besitz i.S.d. § 854 BGB über die Sache, er besitzt für einen anderen. In strafrechtlicher Hinsicht hat er aber tatsächliche Sachherrschaft über die Sache, da er unmittelbar auf sie einwirken kann.
2. Wille zur Sachherrschaft
Weiterhin ist Sachherrschaftswille erforderlich. Diesen können auch Geschäftsunfähige und beschränkt Geschäftsfähige haben, da es sich um einen rein natürlichen Willen handelt, für den gerade keine Geschäftsfähigkeit erforderlich ist.
Wichtige Stichworte im Rahmen des Sachherrschaftswillen sind der generelle Sachherrschaftswille und der potentielle Sachherrschaftswille.
Klassisches Beispiel für den generellen Sachherrschaftswillen ist die Wohnungseinrichtung. Der Inhaber einer Wohnung hat regelmäßig den Willen, die Sachherrschaft an allen, sich innerhalb dieses umgrenzten räumlichen Bereichs befindlichen Sachen auszuüben. Die Sachherrschaftswille muss nicht bewusst auf jeden einzelnen Gegenstand konkretisiert werden, sondern es wird vielmehr (zu Gunsten des Gewahrsamsinhabers) angenommen, dass er bezüglich aller Gegenstände Sachherrschaftswille hat.
Klassisches Beispiel für den potentiellen Sachherrschaftswillen sind Bewusstlose oder Schlafende. Grundsätzlich kann man, wenn man schläft, keinen Willen bilden. Dies hätte jedoch zur Folge, dass der Gewahrsam mit dem Eintritt in den Schlaf, bzw. in die Bewusstlosigkeit endet. Deshalb wird angenommen, dass der Sachherrschaftswille weiterbesteht, sodass auch Bewusstlose und Schlafende durchgehend Gewahrsamsinhaber bleiben.
3. Reichweite der Sachherrschaft
Die Reichweite der Sachherrschaft bestimmt sich nach der Verkehrsauffassung. Anders ausgedrückt bedeutet dies: Würde ein objektiver Dritter in der konkreten Situation annehmen, dass der Gewahrsamsinhaber noch Gewahrsam innehat?
Wichtige Stichworte sind hier der gelockerte Gewahrsam und die sog. Gewahrsamsenklave.
Von gelockertem Gewahrsam spricht man, wenn auch noch Gewahrsam an solchen Sachen besteht, die sich nicht in unmittelbarer Nähe zum Gewahrsamsinhaber befinden. Beispiele hierfür sind z.B. das geparkte Auto, aber auch vergessene Sachen, solange der Gewahrsamsinhaber weiß, wo er die Sache vergessen hat. Auch während längerer Reisen ist nach der Verkehrsanschauung noch gelockerter Gewahrsam am Hab und Gut anzunehmen.
Ein wahrer Klausurklassiker ist die sog. Gewahrsamsenklave. Die typische Fallkonstellation ist hier die „große Manteltasche und kleiner Gegenstand“ – Kombination. Eine Gewahrsamsenklave entsteht, wenn der Täter die Sache so eng in seine höchstpersönliche Sphäre bringt, dass nach der Verkehrsanschauung der alte Gewahrsam schon gebrochen wird, obwohl sich der Täter noch im fremden Machtbereich befindet. Dies wird nach der Verkehrsanschauung typischerweise dann sein, wenn kleine Gegenstände in die Hosentasche oder Manteltasche gesteckt werden.
Tipp: Der absolute Klausurklassiker i.R.d. Gewahrsamsenklave ist der Diebstahl im Selbstbedienungsladen.
III. Gewahrsamsbruch und -neubegründung
Damit von Wegnahme im Sinne des § 242 I StGB gesprochen werden kann, muss der Gewahrsam des bisherigen Inhabers gebrochen und neuer Gewahrsam begründet werden.
Definition: Der Gewahrsam an einer Sache wird gebrochen, wenn er gegen oder ohne den Willen des bisherigen Gewahrsamsinhabers aufgehoben wird.
Voraussetzung ist demnach ein entgegenstehender Wille des bisherigen Inhabers. Erfolgt der (vermeintliche) Gewahrsamsbruch hingegen im Einverständnis mit dem Gewahrsamsinhaber, so liegt ein sog. tatbestandsausschließendes Einverständnis vor, sodass keine Wegnahme gegeben ist.
Ein Klassiker hierzu ist der sog. Diebesfallen-Fall: Soll der Täter des Diebstahls überführt werden, indem ihm eine Falle gestellt wird, so liegt bezüglich des Gewahrsamsbruch ein tatbestandsausschließendes Einverständnis vor.
Definition: Neuer Gewahrsam wird an einer Sache begründet, wenn der Täter die tatsächliche Herrschaft über die Sache dergestalt erlangt hat, dass ihrer Ausübung keine wesentliche, weiteren Hindernisse mehr entgegenstehen.
Auch hier ist wieder die Verkehrsanschauung entscheidend.