I. Haftungslücken im deutschen Staatshaftungsrecht
Verstößt ein deutscher Hoheitsträger gegen das Europarecht und erleidet ein Betroffener hieraus einen Schaden, bestehen grundsätzlich Staatshaftungsansprüche nach deutschem Recht. Es können aber Haftungslücken bestehen, wenn bestimmte Tatbestandsvoraussetzungen des Staatshaftungsrechts nicht erfüllt sind.
1. Haftungslücke bei Nichtumsetzung einer Richtlinie
Dies kann einerseits durch die Nichtumsetzung einer Richtlinie geschehen. Unterlässt der Gesetzgeber die (vollständige) Umsetzung, besteht kein Amtshaftungsanspruch nach deutschem Recht. Denn ein Verstoß gegen eine drittgerichtete Amtspflicht liegt nicht vor, da Gesetze nur im Interesse der Allgemeinheit erlassen werden. Aufgrund des Grundsatzes des Haftungsausschlusses für legislatives Unrecht besteht auch kein Anspruch aus enteignungsgleichem Eingriff.
2. Haftungslücke bei fehlender Angleichung deutscher Gesetze an Europarecht
Andererseits kann es durch die fehlende Angleichung deutscher Gesetze an Europarecht zu Haftungslücken kommen. Wenn Behörden anschließend aufgrund von europarechtswidrigen Rechtsgrundlagen Verwaltungsakte erlassen, scheitern Amtshaftungsansprüche am fehlenden Verschulden. Die Behörden sind nämlich zum Vollzug deutscher Gesetze verpflichtet und besitzen keine Normverwerfungskompetenz. Der enteignungsgleiche Anspruch ist wegen des Ausschlusses für legislatives Unrecht ebenfalls nicht anwendbar.
II. Das Francovich-Urteil des EuGH
Der europäische Staatshaftungsanspruch ist im europäischen Primärrecht nicht ausdrücklich verankert. Er wurde vom Europäischen Gerichtshof 1991 in seiner berühmten Francovich-Entscheidung entwickelt.
Hintergrund war die Nichtumsetzung einer Richtlinie durch Italien, die Arbeitnehmern einen Mindestschutz bei Zahlungsunfähigkeit des Arbeitgebers garantieren sollte. Herrn Francovich wurden von einem Gericht in Italien unerfüllte Lohnansprüche gegen seinen Arbeitgeber zugesprochen, die Zwangsvollstreckung war jedoch fruchtlos. Eine direkte Anwendbarkeit der Richtlinie durch nationale Gerichte schied wegen Unbestimmtheit der Richtlinie aus. Diese hatte den Staaten einen großzügigen Umsetzungsspielraum zugestanden. Um Herrn Francovich nicht vollends schutzlos zu stellen, entwickelte der EuGH das Rechtsinstitut des europäischen Staatshaftungsanspruchs und sprach ihm Schadensersatz gegen Italien zu.
III. Prüfungsschema: Europarechtlicher Staatshaftungsanspruch
Prüfungsschema:
1. Herleitung des Anspruchs
2. Anspruchsgrundlage
3. Handeln eines Hoheitsträgers
4. Qualifizierter Verstoß gegen das Unionsrecht
5. Unmittelbare Kausalität zwischen Verstoß und Schaden
6. Kein Haftungsausschluss
7. Art und Umfang des Schadensersatzes
8. Verjährung
9. Anspruchsgegner
1. Herleitung des Anspruchs
Der europarechtliche Staatshaftungsanspruch findet sich nicht unmittelbar im Unionsrecht wieder. Dementsprechend griff der Europäische Gerichtshof (EuGH) bei der Entwicklung dieser Rechtsfigur in der Francovich-Entscheidung auf das Prinzip der Effektivität des Unionsrechts aus Art. 4 Abs. 3 EUV (Vertrags über die Europäische Union) und die allgemeinen Rechtsgrundsätze als ungeschriebenes Primärrecht zurück. Allgemeine Rechtsgrundsätze bestehen aus den rechtlichen Grundsätzen, die in den meisten Rechtsordnungen der Staaten gelten.
Der europarechtliche Staatshaftungsanspruch kann in der Klausur mit folgenden Argumenten hergeleitet werden:
- Das Prinzip der Effektivität des Unionsrechts (effet utile), Art. 4 Abs. 3 des Vertrags über die Europäische Union.
- Es ist ein allgemeiner Rechtsgrundsatz des Gemeinschaftsrechts, dass der Einzelne Regress gegen einen Mitgliedsstaat bei diesem zurechenbaren Verstößen gegen das Europarecht nehmen kann.
- Artikel 340 AUEV (Vertrags über die Arbeitsweise der europäischen Union), in denen die europarechtliche Staatshaftung partiell geregelt ist und die nationalen Rechtsordnungen kennen ebenfalls Staatshaftungsansprüche. Dies lässt auf einen allgemeinen Rechtsgrundsatz schließen.
2. Anspruchsgrundlage
Der EuGH hat bei der Entwicklung des europarechtlichen Staatshaftungsanspruchs bestimmte abschließende Vorgaben hinsichtlich der Anspruchsvoraussetzungen aufgestellt. Umstritten ist das Verhältnis zum nationalen Staatshaftungsanspruch und welche Anspruchsgrundlage für die anspruchsbegründenden Voraussetzungen gilt:
- Nach einer Ansicht sind wie beim deutschen Staatshaftungsrecht der § 839 BGB i.V.m. Art. 34 GG anzuwenden. Diese sollen allerdings europarechtskonform im Lichte der vom EuGH aufgestellten Kriterien ausgelegt werden.
- Die andere Ansicht differenziert hinsichtlich der anspruchsbegründenden und anspruchsausfüllenden Voraussetzungen. Erstere entspringen allein den vom EuGH entwickelten Rechtsgrundsätzen. Die weiteren Voraussetzungen entsprechen dem deutschen Staatshaftungsrecht gem. § 839 BGB i.V.m. Art. 34 GG.
Da beide Ansichten regelmäßig zu gleichlautenden Ergebnissen kommen und es sich zudem um einen „Aufbaustreit“ handelt, muss der Streit in der Klausur nicht entschieden werden.
3. Handeln eines Hoheitsträgers
Es muss ein öffentlich-rechtliches Handeln der Legislative, Exekutive oder Judikative vorliegen.
4. Qualifizierter Verstoß gegen das Unionsrecht
Die verletze Unionsnorm muss den einzelnen Unionsbürgern Rechte verleihen. Weiterhin muss es sich um einen qualifizierten Rechtsverstoß handeln. Dies ist dann der Fall, wenn der Verstoß offenkundig und erheblich ist. Beispiel ist die Nichtumsetzung einer Richtlinie. Sofern die Richtlinie nur unvollständig oder fehlerhaft umgesetzt worden ist, kommt es darauf an, ob der Mangel offenkundig und erheblich ist.
5. Unmittelbare Kausalität zwischen dem Verstoß und Schaden
Es muss ein materieller oder immaterieller Schaden beim Geschädigten eingetreten sein. Die Kausalität wird nach der conditio-sine-qua-non Formel bestimmt. Denn diese gilt ebenfalls nach Grundsätzen, die für Art. 340 Abs. 2 AEUV entwickelt wurden. Daher darf der Verstoß nicht hinweggedacht werden, ohne dass der Schaden entfällt. Weiterhin sind Schäden nur kausal, wenn sie nach der allgemeinen Lebenserfahrung typischerweise geeignet sind einen Schaden zu verursachen.
6. Kein Haftungsausschluss
Nach der Subsidiaritätsklausel des § 839 Abs. 1 S. 2 BGB besteht kein Amtshaftungsanspruch, wenn dem Beamten nur Fahrlässigkeit zur Last fällt und der Verletzte auf andere Weise Ersatz erlangen kann.
Diese Klausel ist jedoch im Fall des europarechtlichen Staatshaftungsanspruchs nicht anwendbar (str.), weil es sich bei diesem Anspruch nicht um eine übergeleitete, sondern um eine unmittelbare Haftung handelt.
Das Richterspruchprivileg des § 839 Abs. 2 S. 1 BGB ist ebenfalls nicht anwendbar.
Ein Amtshaftungsanspruch kann gem. § 839 Abs. 3 BGB noch ausscheiden, wenn der Geschädigte es in vorwerfbarer Weise versäumt hat, den Schaden durch Gebrauch eines Rechtsmittels abzuwenden. Diese Vorschrift findet auch für den europarechtlichen Staatshaftungsanspruch Anwendung.
7. Art und Umfang des Schadensersatzes
Der Schadensersatz erfolgt bei Amtshaftungsansprüchen grundsätzlich in Geld. Ansprüche auf Amtshandlungen sind mit diesem Instrument nicht durchsetzbar.
8. Verjährung
Die Verjährung richtet sich nach den §§ 194 ff. BGB. Dies wurde vom EuGH nicht beanstandet.
9. Anspruchsgegner
Es haftet die juristische Person des öffentlichen Rechts, die den Verstoß gegen Europarecht begangen hat.
IV. Zusammenfassung
Der europarechtliche Staatshaftungsanspruch stellt ein anspruchsvolles Thema dar, welches aus guten Gründen gerne im Staatsexamen geprüft wird. Zum einen lässt sich hervorragend Europarecht mit nationalem Staatshaftungsrecht kombinieren. Zum anderen müssen viele Voraussetzungen des Anspruchs auswendig gelernt werden. Wird er tatsächlich einmal geprüft, trennt sich schnell die Spreu vom Weizen. Es lohnt sich daher den Anspruch zu beherrschen.