I. Die Stellung des Meinungsstreits im Prüfungsaufbau
Grundsätzlich können Sie sowohl bei der Prüfung eines Raubes als auch einer räuberischen Erpressung auf die Problematik eingehen. Legt der Sachverhalt nahe, dass eine Abgrenzung zwischen § 249 und §§ 253, 255 StGB geboten ist, erscheint es vorzugswürdiger, mit der Prüfung des Raubes zu beginnen.
II. Die Abgrenzung
Nach welchen Kriterien beide Delikte voneinander abzugrenzen sind, ist zwischen Rechtsprechung und Literatur höchst umstritten.
1. Rechtsprechung/BGH
Die Rechtsprechung stellt auf das äußere Erscheinungsbild des Täterverhaltens (Akt des Nehmens) ab. Vereinfacht gesagt liegt dann ein Raub vor, wenn sich der Täter die Sache nimmt, eine räuberische Erpressung, wenn er sich die Sache vom Opfer geben lässt.
Als Nötigungserfolg erachtet die Rechtsprechung jedes Handeln, Dulden oder Unterlassen des Genötigten.
Daraus folgt, dass jede Wegnahme nach § 249 I StGB zugleich eine Duldung der Wegnahme beinhaltet. Somit erfüllt jeder Raub zugleich auch den Tatbestand einer räuberischen Erpressung und verdrängt als lex specialis die räuberische Erpressung als lex generalis. Einer Vermögensverfügung bedarf es demnach nicht. Eine Abgrenzung erfolgt auf der Konkurrenzebene.
Die Rechtsprechung sieht die räuberische Erpressung nach §§ 253, 255 StGB somit als Grunddelikt zum Raub nach § 249 StGB. Die räuberische Erpressung ist dieser Meinung entsprechend damit ein Fremdschädigungsdelikt.
Als Argument für diese Ansicht wird zunächst angeführt, dass eine laut der Lit. „freiwillige“ Mitwirkung lebensfremd erscheint und der Wortlaut des § 253 I StGB, wonach jedes Handeln, Dulden oder Unterlassen Nötigungserfolg sein kann. Damit ist §§ 253, 255 StGB verwandt mit § 240 StGB. Außerdem kann die Abgrenzung nach klar feststellbaren, objektiven Kriterien erfolgen.
Beispiel einer Abgrenzung:
- von zwei Tätern mit einer Schusswaffe bedrohte Bankangestellte gibt Bargeld heraus = räuberische Erpressung, da Geben des Opfers
- Täter gehen um Theke herum und nehmen sich Geld selbst aus Kasse = Raub, da Nehmen durch Täter
2. Literatur
Demgegenüber stellt die herrschende Literaturmeinung auf die innere Willensrichtung des Genötigten ab. Nur dann, wenn das Opfer glaubt, eine Wegnahme verhindern zu können und dass seinerseits eine (zumindest rest-)freiwillige Handlung notwendig sei, handelt es sich um räuberische Erpressung.
Entscheidend ist, ob das Opfer selbst unter dem Eindruck des qualifizierten Nötigungsmittels eine Handlungsalternative erblickt und seine eigene Mitwirkung als erforderlich ansieht, oder ob es denkt, es werde den Gewahrsam auf jeden Fall verlieren und habe keine Wahl.
Der Ansicht der Literatur zufolge handelt es sich bei der räuberischen Erpressung folglich um ein Selbstschädigungsdelikt. Der Raub (welcher unstreitig ein Fremdschädigungsdelikt ist) und die räuberische Erpressung schließen sich demzufolge tatbestandlich gegenseitig aus.
Zu verneinen ist die räuberische Erpressung bei Anwendung einer den freien Willen ausschließenden Gewalt durch den Täter, genannt „vis absoluta“. Hierbei handelt es sich um eine den Willen brechende, d.h. eine die freie Willensbetätigung ausschließende Form der Gewalt. Es ist dem Opfer also nicht mehr möglich, eine Verhaltensalternative zu ergreifen, beispielsweise weil es gefesselt oder festgehalten wird.
Vis absoluta kann jedoch auch bei Bedrohung mit einer Waffe und dem Spruch „Geld oder Leben“ gegeben sein, sodass selbst in Fällen, in denen das Opfer eine Sache nach dem äußeren Erscheinungsbild weggibt, nicht von räuberischer Erpressung, sondern von Raub ausgegangen wird.
Nötigungserfolg kann nach dieser Ansicht nur eine nötigungsbedingte Vermögensverfügung des Opfers sein.
Begründet wird dies mit der Strukturgleichheit zum Betrug gem. § 263 StGB. Auch beim Betrug ist nicht explizit von einer Vermögensverfügung die Rede, trotzdem sieht sie der BGH als Tatbestandsmerkmal an. So auch bei der räuberischen Erpressung. Auch die weiteren Tatbestandsmerkmale der räuberischen Erpressung, wie der Eintritt eines Vermögensnachteils und die Bereicherungsabsicht, unterstreichen, dass es sich um ein dem Betrug sehr ähnliches Vermögensdelikt sowie Selbstschädigungsdelikt handelt.
Da eine Selbstschädigung bzw. Weggabe nicht gleichzeitig eine Fremdschädigung bzw. Wegnahme sein kann, werden Raub und räuberische Erpressung nicht als lex specialis und lex generalis gesehen, sondern schließen sich wegen des Exklusivitätsverhältnisses aus.
Außerdem wird gegen die Ansicht der Rechtsprechung eingewandt, dass ein lex generalis niemals auf den Strafrahmen eines lex specialis verweise, was § 255 StGB jedoch tut („gleich einem Räuber zu bestrafen“). Weitere Argumente sind die konträre Stellung der Normen und der ansonsten überflüssig erscheinende Tatbestand des Raubes.
III. Verortung im Prüfungsaufbau
1. Raub
Wenn Sie Ihre Prüfung mit einem Raub beginnen, ist die Abgrenzung zur räuberischen Erpressung unter dem Punkt „Wegnahme“ im objektiven Tatbestand zu diskutieren.
A. TatbestandsmäßigkeitI. Objektiver Tatbestand
- qualifiziertes Nötigungsmittel: Gewalt gegen eine Person und/oder Drohungen mit gegenwärtiger Gefahr für Leib oder Leben einer Person
- Wegnahme ➔ ⓟ Bestimmung des Bruchs? Die Frage stellt sich im Ursprung aufgrund der Abgrenzung von Raub und räuberischer Erpressung
- Finalzusammenhang zwischen qualifiziertem Nötigungsmittel und der Wegnahme
II. Subjektiver Tatbestand
- Vorsatz
- Zueignungsabsicht und Rechtswidrigkeit der Zueignung
2. Räuberische Erpressung
Hier muss die Problematik unter dem objektiven Tatbestandsmerkmal des Nötigungserfolges diskutiert werden. Beachten Sie dabei, dass die räuberische Erpressung nach § 255 StGB eine Qualifikation der Erpressung gem. § 253 StGB ist, weshalb letztere immer mitgeprüft werden muss. Zur Veranschaulichung im Folgenden das Prüfungsschema des Tatbestandes der räuberischen Erpressung:
A. TatbestandI. Objektiver Tatbestand
- qualifiziertes Nötigungsmittel: Gewalt gegen eine Person und/oder Drohungen mit gegenwärtiger Gefahr für Leib oder Leben einer Person
- Nötigungserfolg
➔ ⓟ Welche Voraussetzungen muss die Opferhandlung erfüllen? Maßgeblich ist die Abgrenzung von Raub und räuberischer Erpressung - Eintritt eines Vermögensnachteils
II. Subjektiver Tatbestand
- Vorsatz
- Bereicherungsabsicht
III. Rechtswidrigkeit (nicht indiziert)
- Vorliegen allgemeiner Rechtfertigungsgründe
- Verwerflichkeitsprüfung, § 253 II StGB
IV. Relevanz des Meinungsstreits
Grundsätzlich sollten die zwei konträren Meinungen in jeder Prüfung eines Raubes bzw. einer räuberischen Erpressung zumindest genannt werden.
Hier nochmals eine Übersicht zum einprägen:
Ausgebreitet und entschieden werden sollte der Meinungsstreit vor allem in Fällen, wo beim Täter keine Zueignungsabsicht gegeben ist, etwa weil er mit einem unter Einsatz von Nötigungsmitteln erlangten Auto nur kurz fahren wollte, ohne es sich oder einem Dritten zueignen zu wollen. In diesem Fall ist der subjektive Tatbestand des Raubes nach § 249 I StGB nicht erfüllt.
Hat er das Auto nun unter Anwendung von vis absoluta, also willensausschließender Gewalt erlangt, beispielsweise indem er den Fahrer gepackt und gefesselt hat, ist nach der herrschenden Literaturmeinung – nicht jedoch nach Ansicht der Rechtsprechung – ebenso eine räuberische Erpressung nach §§ 253, 255 StGB ausgeschlossen.
Grund hierfür ist, dass aus der Sicht des Opfers keine Handlungsmöglichkeit bestand, ihm also in keiner Weise mehr eine Mitwirkung möglich war und daher eine Vermögensverfügung als Nötigungserfolg ausscheidet. Somit verbleiben für eine Bestrafung des Täters nur „Peanuts-Delikte“ wie die Nötigung nach § 240 I StGB oder der unbefugte Gebrauch eines Fahrzeuges nach § 248b StGB.
Hätte der Täter jedoch das Opfer mit vis compulsiva, d.h. willensbeugender Gewalt dazu genötigt, das Auto heraus zu geben, wäre eine Bestrafung wegen räuberischer Erpressung auch nach der Literaturmeinung möglich, da aus Sicht des Opfers möglicherweise Handlungsalternativen bestanden haben.
Wenn man gemäß der Literatur nun nur eine Vermögensverfügung als Nötigungserfolg genügen lässt, haben die fehlende Zueignungsabsicht und die Anwendung von vis absoluta zur Folge, dass ein brutaler handelnder Täter in ungerechtfertigter Weise privilegiert wird. Dies muss als kriminalpolitisch nicht gewollt angesehen werden.
Hiergegen wendet die Literatur ein, dass die Gewaltanwendung durch § 240 und die §§ 223 ff. StGB hinreichend berücksichtigt wird. Es bleibt also der eigenen Wertung und Gewichtung der Argumente überlassen, für welche Ansicht man sich letztendlich entscheidet. Beide Ansichten sind gut zu vertreten.