Art. 38 Abs. 1 S. 1 GG legt fest:
„Die Abgeordneten des Deutschen Bundestages werden in allgemeiner, unmittelbarer, freier, gleicher und geheimer Wahl gewählt.“
I. Bedeutung und Zweck
Das Bundesverfassungsgericht bezeichnet die Wahlrechtsgrundsätze in Art. 38 Abs. 1 S. 1 GG als grundlegende Anforderungen an demokratische Wahlen. Die Wahlrechtsgrundsätze sollen dazu dienen, das Demokratieprinzip gem. Art. 20 Abs. 2 GG bei Wahlen wirksam zur Geltung zu bringen.
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II. Wahlrechtsgrundsätze
1. Allgemeinheit der Wahl
Alle Bürger*innen sind aktiv und passiv wahlberechtigt, soweit sie die allgemeinen Voraussetzungen hierfür erfüllen.
Keine Gruppe darf aus sozialen, politischen oder wirtschaftlichen Gründen von der Wahl ausgeschlossen werden. Hiermit sollen Wahlrechtsbeschränkungen, wie etwa die Beschränkung auf Männer bis 1919 oder die Anknüpfung des Wahlrechts an Besitz oder Steuerleistungen verhindert werden.
Die Allgemeinheit der Wahl kann als speziellere Ausprägung des Diskriminierungsverbots in Art. 3 Abs. 3 GG angesehen werden.
Weiter soll es allen Bürger*innen möglich sein, ihr Wahlrecht in möglichst gleicher Weise auszuüben.
Die Allgemeinheit der Wahl macht gewisse sachlich gebotene Grenzen des Wahlrechts aber nicht aus.
Wahlberechtigt sind demnach:
- alle Deutschen
- die das 18 Lebensjahr vollendet haben
- seit mindestens drei Monaten im Bundesgebiet wohnen
- und nicht aus besonderen Gründen vom Wahlrecht ausgeschlossen sind.
Werden Ausnahme vom Grundsatz der Allgemeinheit der Wahl gemacht, benötigen diese einen zwingenden Grund zum Schutz anderer Verfassungsgüter.
Ein in Klausuren häufiger diskutiertes Problem ist die Einführung eines sog. Kinderwahlrechts. Ein Kinderwahlrecht würde Kindern die Wahlberechtigung, vertreten durch ihre Eltern, einräumen oder ein Familienwahlrechtssystem in Form eines mehrfachen Wahlrechts entsprechend der Zahl der Kinder einführen.
Nach überwiegender Ansicht verstößt die Einführung eines Kinderwahlrechts gegen den Wahlgrundsatz der Allgemeinheit der Wahl. Das Wahlalter ist in Art. 38 GG einwandfrei geregelt, weshalb eine Änderung des Grundgesetzes notwendig wäre, die nicht mit dem höchstpersönlichen Charakter der Wahl und damit nicht mit dem Demokratieprinzip vereinbar wäre.
Auch die Absenkung des Wahlalters auf 16 Jahre kann in einer Klausur diskutiert werden müssen. Eine solche Änderung des Wahlrechts wäre jedenfalls verfassungsrechtlich zulässig.
2. Unmittelbarkeit der Wahl
Unmittelbarkeit der Wahl bedeutet, dass die Wählerstimmen direkt die Zuteilung der Abgeordnetensitze ergeben. Es gibt keine Zwischeninstanz, wie beispielsweise Wahlmänner.
Nach dem Bundesverfassungsgericht enthält der Wahlgrundsatz der Unmittelbarkeit der Wahl darüber hinaus die Anforderung, dass ein Wahlverfahren so aufgebaut sein muss, dass der Wähler erkennen kann, welche Personen zur Wahl stehen und wie sich die eigene Stimme auf den Erfolg oder Misserfolg der/des Kandidat*in auswirken kann.
Die Listenwahl ist als mit dem Grundsatz der Unmittelbarkeit der Wahl vereinbar anzusehen.
3. Freiheit der Wahl
Der Grundsatz der Freiheit der Wahl bestimmt, dass die Stimme frei von Zwang oder staatlicher Beeinflussung abgegeben werden kann. Zudem darf niemand wegen seiner Wahlentscheidung benachteiligt werden. Auch eine Verengung der Entschließungsfreiheit des Wählers innerhalb des bestehenden Wahlsystems würde gegen den Wahlgrundsatz der Freiheit der Wahl verstoßen.
4. Geheimheit der Wahl
Die Wahl muss geheim stattfinden, das heißt die Stimmabgabe des Einzelnen darf keinem anderen bekannt werden können.
5. Gleichheit der Wahl
Der Wahlgrundsatz der Gleichheit der Wahl legt fest, dass jede*r Wahlberechtigte gleich viele Stimmen zu vergeben hat. Jede Stimme muss gleiches Gewicht haben. Bei der Mehrheitswahl müssen Stimmen wenigstens den gleichen Zählwert, bei der Verhältniswahl zusätzlich den gleichen Erfolgswert haben.
Der Wahlgrundsatz der Gleichheit der Wahl betrifft nicht nur die Wahl selbst, sondern dehnt sich auf Wahlvorbereitung, Zulassung zur Wahl, Wahlwerbung etc. aus.
Problematisch kann die Gleichheit der Wahl in Zusammenhang mit der Fünfprozentsperrklausel, der Grundmandatsklausel und den Überhangmandaten werden.
6. Öffentlichkeit der Wahl
Der Wahlrechtsgrundsatz der Öffentlichkeit der Wahl ist im Grundgesetz nicht ausdrücklich genannt, sondern wurde vom Bundesverfassungsgericht entwickelt.
Der Grundsatz der Öffentlichkeit der Wahl gebietet, dass alle wesentlichen Schritte der Wahl der öffentlichen Überprüfbarkeit unterliegen müssen. Ausnahmen sind nur durch andere verfassungsrechtliche Belange zu rechtfertigen.
III. Klausurprobleme
1. Briefwahl
Problematisch in Anbetracht der Briefwahl ist das Einhalten der Wahlrechtsgrundsätze der Freiheit und Geheimheit der Wahl. Andererseits gewährleistet die Möglichkeit der Briefwahl die Allgemeinheit der Wahl in besonderem Maße. Hier entsteht ein Konflikt zwischen den verschiedenen Wahlrechtsgrundsätzen, die der Gesetzgeber im Interesse der Einheitlichkeit des Wahlsystems ausgleichen muss.
2. Wahlcomputer
Ein weiteres, in Klausuren gerne behandeltes Thema ist der sog. Wahlcomputer. Die Zulässigkeit solcher elektronischer Wahlgeräte ist in § 35 BWG geregelt.
Nach Ansicht des Bundesverfassungsgerichts ist der Einsatz von Wahlcomputern nicht mit dem Wahlgrundsatz der Öffentlichkeit der Wahl nach Art. 38 i.V.m. Art. 20 Abs. 1, Abs. 2 GG vereinbar, wenn der Wahlcomputer so technisch aufgebaut ist, dass dieser die abgegebenen Stimmen ausschließlich auf einem elektronischen Speicher ablegt.
3. Paritätsgesetze
Das paritätische, abwechselnd mit Männern und Frauen, Besetzen von Wahllisten könnte den Wahlgrundsatz der Freiheit der Wahl beeinträchtigen.
Die Besetzung der Wahllisten betrifft die Wählerentscheidung zwar nur mittelbar, da vorrangig die parteiinterne Kandidat*innenaufstellung betroffen ist, der Wähler kann allerdings nicht alle potentiellen Kandidat*innen vorschlagen oder wählen.
Es wird angeführt, dass auch Art. 3 Abs. 2 S. 2 GG keine Rechtfertigung der Einschränkung darstellen kann, da der besondere Gleichheitssatz keine Anwendung auf das Wahlrecht findet.
Gegenstimmen führen an, dass der Eingriff in die Freiheit der Wahl gegen die Freiheit der Parteien gem. Art. 21 Abs. 1 GG abgewogen werden muss, die ihre Wahllisten frei, d.h. nach Wunsch auch paritätisch, besetzen können müssen.
Quellen
- Sodan/Ziekow, Grundkurs Öffentliches Recht, 9. Auflage 2020.
- Maurer, Staatsrecht I, 6. Auflage 2010.