I. Allgemeines zum Rückwirkungsverbot
Das Rückwirkungsverbot resultiert aus der Tatsache, dass das Vertrauen des Bürgers auf die bestehende Rechtslage bzw. die bestehenden Gesetze geschützt wird. Es kann nicht sein, dass er sein Verhalten daran ausrichtet und dieses plötzlich ganz anders gewertet wird. Dieser Grundsatz des Vertrauensschutzes und der Rechtssicherheit ist ein Ausfluss des Rechtsstaatsprinzips aus Art. 20 Abs. 3 GG.
Der 1. Senat des BVerfG unterscheidet grundsätzlich zwischen echter und unechter Rückwirkung. Nach der ständigen Rechtsprechung des 2. Senats des BVerfG ist mittlerweile die Unterscheidung in „Rückbewirkung von Rechtsfolgen (echte)“ und „Tatbestandliche Rückanknüpfung (unechte)“ gebräuchlicher, welche auch vielmehr den Inhalt der Regelungen wieder trifft. Beide Begriffspaare werden jedoch synonym verwendet. Schöner hingegen ist die Formulierung des 2. Senats.
Ein ausdrückliches Rückwirkungsverbot besteht auch im Strafrecht, Art. 103 Abs. 2 GG. Eine Tat darf nur bestraft werden, wenn die Strafbarkeit gesetzlich bestimmt war, bevor die Tat begangen wurde (nulla poena sine lege).
Weitere Ausprägungen der Gestaltung der Rechtsordnung so, dass die Bürger sich zu einem gewissen Grad auf die Vorgaben der Rechtsordnung verlassen können (Gebots der Rechtssicherheit), sind das Bestimmtheitsgebot und der Vertrauensschutz.
Tipp: Um mehr über die Ausprägungen des Rechtsstaatsprinzips zu lernen, lies hier.
II. Rückbewirkung von Rechtsfolgen (Echte Rückwirkung)
Grundvoraussetzung für beide Arten der Rückwirkung ist, dass das von einer Änderung betroffene Gesetz potenziell schutzwürdiges Vertrauen hervorrufen konnte. Dies liegt nicht vor, wenn sich eine entsprechende Gesetzesänderung erkennbar abgezeichnet hat.
Ferner bedarf es einer dahingehende Beschwer.
Definition: Eine echte Rückwirkung ist gegeben, wenn ein Gesetz nachträglich in einen in der Vergangenheit liegenden, bereits abgeschlossenen Sachverhalt ändernd eingreift oder ihn erstmalig belastend regelt.
Das bedeutet, die Rechtsfolgen einer Norm sollen für einen bestimmten Zeitraum eintreten, der vor der Verkündung und damit dem Inkrafttreten der Norm liegt. Es geht hier also um den zeitlichen Anwendungsbereich einer Norm.
Beispiel: Ein im November 2014 verkündetes Gesetz hebt die Einkommensteuer an. Das Gesetz soll rückwirkend zum 01.01.2013 in Kraft treten. Gemäß der im Steuerrecht geltenden Periodizität ist der Steuertatbestand immer am Ende eines Jahres, also zum 31.12.2013 abgeschlossen. Es handelt sich also um echte, unzulässige und daher verfassungswidrige Rückwirkung.
In der Regel ist eine solche echte Rückwirkung unzulässig!
Den maßgebliche Zeitpunkt sieht das BVerfG im Gesetzesbeschluss. Danach besteht kein schutzwürdiges Vertrauen mehr in den Bestand der alten Rechtslage.
Ausnahmen bestehen jedoch auch, in der Form, dass ausnahmsweise eine echte Rückwirkung gerechtfertigt sein kann, wenn:
- der Schutzzweck des Rückwirkungsverbots nicht greift,
- zwingende Gründe des Gemeinwohls vorliegen (Wertungsfrage im Einzelfall),
- der Bürger mit einer Veränderung der Rechtslage rechnen musste, z.B. weil ein entsprechender Bundestagsbeschluss gem. Art. 77 Abs. 1 S. 1 GG ergangen ist (bis zur Verkündung im Bundesgesetzblatt gem. Art. 82 Abs. 1 S. 1GG vergeht i.d.R. eine gewisse Zeit). Ein Bundestagesbeschluss ist also insoweit vertrauenszerstörend. Bloße Gesetzesinitiativen sind jedoch nicht ausreichend!
- Ein Gesetz formell verfassungswidrig war (wegen einem fehlerhaften Gesetzgebungsverfahren oder fehlerhafter Form) und erneut in formell verfassungsgemäßer Weise mit Rückwirkung beschlossen wurde.
- Die Neuregelung/Änderung begünstigt den Bürger ausschließlich.
- Die bisherige Rechtslage war unklar und verworren (BVerfGE 45, 142: Getreideimporte nach Deutschland, 1977).
III. Tatbestandliche Rückanknüpfung (Unechte Rückwirkung)
Definition: Eine unechte Rückwirkung liegt vor, wenn ein Gesetz auf gegenwärtige, noch nicht abgeschlossene Sachverhalte für die Zukunft einwirkt und damit zugleich die betroffene Rechtsposition nachträglich entwertet.
Gemeint ist die Rechtsfolgen eines Gesetzes treten erst nach Verkündung der Norm ein, knüpfen jedoch tatbestandlich bzw. in ihrem sachlichen Anwendungsbereich an Gegebenheiten aus der Zeit vor der Verkündung an. Insofern wird also der Eintritt der Rechtsfolgen einer Norm von Gegebenheiten aus der Zeit vor ihrer Verkündung abhängig gemacht.
Beispiel: Wie das oben angeführte Beispiel, nur diesmal soll das Gesetz rückwirkend zum 01.01.2014 in Kraft treten. Der Steuertatbestand ist noch nicht abgeschlossen, es handelt sich daher um unechte Rückwirkung.
Eine unechte Rückwirkung ist grundsätzlich zulässig!
Es sei denn, sie ist unverhältnismäßig. Bei der Beurteilung der Verhältnismäßigkeit ist eine Interessen- bzw. Güterabwägung vorzunehmen.
Tipp: Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit ist elementar im Verfassungsrecht, erfahre hier mehr!
Sie kann jedoch deshalb unzulässig sein, wenn
- das Vertrauen des Betroffenen schutzwürdig ist und
- sein Schutzbedürfnis das öffentliche Interesse an der neuen Regelung überwiegt
Hierbei ist insbesondere der Vertrauensschutz des Bürgers zu beachten, sodass im Einzelfall Übergangsregelungen erforderlich sein können. Ins Gewicht kann beispielsweise fallen, wenn der betroffene Bürger bereits Dispositionen für seinen Ruhestand getroffen hat, die er bei Kenntnis der Gesetzesänderung nicht vorgenommen hätte.
Beispiel: Ein 50-jähriger Notar hat ein Haus gekauft und dieses u.a. durch einen Kredit finanziert, welcher ihn noch 15 Jahre belastet. Ein ordnungsgemäß zustande gekommenes und verkündetes Gesetz senkt die Altersgrenze für Notare auf 60 Jahre. Fehlt hier eine Übergangsregelung (z.B. alle Notare, die das 50. Lebensjahr vollendet haben, dürfen ihre Tätigkeit noch für 15 Jahre fortsetzen), so könnte dies im Einzelfall unverhältnismäßig und damit verfassungswidrig sein.
Anders sieht es bei dem oben angeführten Steuerbeispiel aus; hier muss der Bürger i.d.R. damit rechnen, dass die Steuern im Laufe des Jahres noch einmal angehoben werden.
IV. Stellung im Prüfungsaufbau
Die Rückbewirkung von Rechtsfolgen (echte Rückwirkung) wird in der materiellen Verfassungsmäßigkeit unter dem Punkt Verstoß gegen die Staatsstrukturprinzipien/das Rechtsstaatsprinzip Art. 20 Abs. 3 GG geprüft.
Die tatbestandliche Rückanknüpfung (unechte Rückwirkung) kann ebenfalls an dieser Stelle geprüft werden, passt aber systematisch deutlich besser in die Prüfung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes (i.R.d. Angemessenheit) und damit die grundrechtsspezifische Prüfung (z.B. Art. 12 Abs. 1 GG).