I. Die biologischen Theorien
Insbesondere historisch sehr bedeutsam sind die biologischen Ansätze. In ihrer Grundidee haben diese gemein, dass sie den Ursprung für Kriminalität in der Persönlichkeit des Täters selbst sehen. Einige dieser Ansätze muten aus heutiger Perspektive etwas seltsam an. Für die damalige Zeit waren sie dennoch ein wichtiger Schritt, vor allem für die allgemeine Entwicklung eines kriminologischen Forschungsfeldes überhaupt.
1. Der geborene Verbrecher
Als einer der ersten, die den Versuch wagten, Verbrecher und gesetzestreue Menschen voneinander aufgrund von empirischen Daten zu unterscheiden, gilt der italienische Mediziner Cesare Lombroso.
Er verglich die äußeren körperlichen Merkmale von Gefangenen miteinander und versuchte so Typen zu ermitteln, die von Geburt an determiniert waren, Verbrecher zu werden. Diese äußeren Merkmale sollten so eindeutig sein, dass man Verbrecher erkennen konnte, schon bevor sie eine erste Tat verübt hatten. Als Beispiele wollte Lombroso bei Verbrechern große Kiefer, asymmetrische Gesichtszüge oder große Hände und Füße erkannt haben.
Schon zu Lebzeiten musste er sich jedoch heftiger Kritik aussetzen, schon allein aufgrund seiner methodischen Fehler, von denen am meisten heraussticht, dass er schlicht keine Vergleichsgruppe zu den Verbrechern bildete. Ob also breite Kiefer oder große Hände in der Normalbevölkerung ebenso häufig vorkamen, wie bei den untersuchten Verbrechern, hat Lombroso nicht beachtet.
Lombrosos Verdienst für die empirische Forschung bleibt aber bis heute unumstritten, zumal er sich von einigen seiner Thesen später auch leicht löste.
2. Das Y-Chromosom und die phosphathaltige Ernährung
In den 1960er Jahren sorgte eine Untersuchung für großes Aufsehen, die behauptete, das sogenannte Mörderchromosom gefunden zu haben. Insgesamt nahm man an, dass bei Männern ein überzähliges Y-Chromosom zu erhöht aggressivem und kriminellem Verhalten führe.
So populär diese These zu Beginn war, gelang der empirische Beweis am Ende nicht. Nur 0,1 % der Gesamtbevölkerung und nur 1 % der gefährlichen Gewaltverbrecher hatten ein weiteres Y-Chromosom. Basierend auf diesen Daten konnte sich die Theorie letztlich nicht ernsthaft halten.
Ähnlich erging es in der 1970er Jahren der Theorie, welche besonders phosphatreiche Ernährung als kriminalitätsfördernd ansah. Der empirische Beweis konnte auch hier nicht stichhaltig geführt werden.
3. Zwillings- und Adoptionsforschung
Interessantere Ergebnisse ergaben und ergeben sich auch aktuell immer noch aus der Zwillings- und Adoptionsforschung.
Bei der Zwillingsforschung werden regelmäßig eineiige und zweieiige Zwillinge meist über Jahrzehnte verglichen.
Bei den eineiigen Probanden wurde teilweise eine bis zu vier Mal höhere Übereinstimmung im kriminellen Verhalten (sogenannte Konkordanzziffer) zu den zweieiigen Zwillingen festgestellt. Daraus ließe sich natürlich der Schluss ziehen, Kriminalität sei genetisch veranlagt.
Doch auch dieser zunächst scheinbar einleuchtende Befund muss sich stark hinterfragen lassen. Abgesehen davon, dass die Probandengruppe aufgrund der Schwierigkeiten passende Zwillingspaare zu finden relativ klein war, werden Zwillinge generell von ihrem sozialen Umfeld häufig sehr ähnlich behandelt. Eine größere Wirkung von Umwelteinflüssen als die bloße Verwandtschaft kann also nicht ausgeschlossen werden.
Einerseits um dem Problem zu entgehen, andererseits aber auch um einen Einfluss von Umwelteinflüssen nachweisen zu können, hat man ähnliche Untersuchungen an Adoptivkindern durchgeführt. Dabei wurde die Delinquenz sowohl des biologischen, als auch des Adoptivvaters festgestellt um erkennen zu können, ob die Entwicklung des Adoptivkindes eher auf Umwelteinflüssen oder auf biologischen Einflüssen beruht.
Auch hier scheinen die Ergebnisse den biologischen Theorien zunächst recht zu geben. Denn tatsächlich wiesen die Kinder mit einem kriminellen biologischen Vater eine höhere kriminelle Belastung auf. Die höchste Delinquenz trat bei krimineller Belastung beider Väter auf.
Daraus zogen die Forscher den Schluss, dass Kriminalität aus einem Zusammenwirken von biologischen und Umwelteinflüssen entsteht. Als Kritikpunkt wurde an der Adoptionsforschung generell angebracht, dass nicht klar wurde, inwiefern sich das Wissen um die Kriminalität der biologischen Väter bei den Adoptivvätern auf deren Verhalten gegenüber dem Adoptivkind ausgewirkt hat und wie sich dies letztendlich auf die kriminelle Karriere des Kindes auswirken konnte.
Insgesamt kann festgehalten werden, dass der Erkenntniswert der Adoptions- und Zwillingsforschung eher gering ausfällt. Dass Kriminalität ein Zusammenwirken von Umwelt und Biologie sein kann, ist ein Gedanke, der erstens naheliegt und zweitens schon rund hundert Jahre zuvor ohne irgendeine Forschung geäußert wurde. Dennoch sind zumindest die empirischen Erkenntnisse interessant und können wenigstens als Argument für die Richtigkeit einer Theorie von mehreren zusammenwirkenden Faktoren herhalten.
4. Modernere biologische Ansätze
Auch aktuell gibt es einige Forschungen, die sich mit biologischen Ursachen für Kriminalität beschäftigen, wenn auch mittlerweile auf einer wesentlich komplexeren und differenzierteren Ebene. Abschließende Beurteilungen zur Stichhaltigkeit dieser Theorien lassen sich größtenteils noch nicht erbringen. Die Forschung auf diesem Gebiet kann also weiterhin mit Aufmerksamkeit verfolgt werden.
5. Schizophrenie
Die Forschung zum Zusammenhang zwischen Schizophrenie und Kriminalität steckt noch in den Kinderschuhen. Schon jetzt kann aber festgehalten werden, dass bei Vermögens- oder Eigentumsdelikten eine relativ kleinere Gruppe von Verbrechern unter Schizophrenie litten.
Bei Gewaltverbrechen hingegen zeichnete sich eine deutlich stärkere Belastung von Verbrechern mit Schizophrenie ab. Weiterhin stellten sich die Taten häufig als äußerst brutal oder grausam dar.
6. Neurochemische Einflüsse
Immer wieder wird auch der Zusammenhang zwischen Kriminalität und dem Hormonhaushalt diskutiert. Insbesondere das männliche Sexualhormon Testosteron spielt dabei eine wichtige Rolle. Ungeklärt ist aber bis jetzt, ob aggressives Verhalten eine vermehrte Testosteronausschüttung zur Folge hat oder andersherum die Testosteronausschüttung aggressives Verhalten fördert. Der Nachweis bezüglich Ursache und Wirkung steht insoweit noch aus.
Ganz ähnlich ist es beim Neurotransmitter Serotonin. Dabei ist nachgewiesen, dass ein geringer Serotoninspiegel die Impulsivität erhöht. Wovon aber genau die Schwankung des Serotoninspiegels abhängig ist, wurde noch nicht geklärt.
II. Psychologische Theorien
Neben Theorien, die an biologische Ursachen anknüpfen, gibt es natürlich auch Ansätze, die die Ursachen für Kriminalität in der Psyche der Täter suchen.
1. Das Persönlichkeitsmodell nach Sigmund Freud
Sigmund Freud ging in seiner Theorie von einer Dreiteilung der menschlichen Psyche aus:
→ das „ES“ (welches die Triebe und das Verdrängte speichert)
→ das „ÜBER-ICH“ (das Gewissen)
→ das „ICH“ (Vermittlungsinstanz zwischen „Es“ und „Über-Ich“)
Nach Freuds Ansicht wird der Mensch grundsätzlich als asoziales Wesen (sprich: geborener Verbrecher) geboren. Dies wird aber durch eine konsistente Erziehung behoben.
Ist die Erziehung fehlerhaft, so kann das „Ich“ nicht mehr zureichend zwischen „Es“ und „Über-Ich“ vermitteln. Sind dann entweder „Es“ oder „Über-Ich“ zu dominant, kommt es zur Kriminalität.
Später fügte Freud, basierend auf der Idee des Ödipuskomplexes, die Theorie hinzu, dass jeder Mensch sich schuldig fühle und durch die der Straftat folgende Strafe Befriedigung suche.
Obwohl theoretisch interessant, ist die Brauchbarkeit dieser Ansätze für die Kriminalwissenschaften begrenzt, da schlicht kein empirischer Nachweis erbracht werden kann.
2. Sündenbocktheorie
Auf Basis der Freudschen Theorie wurde später auch die Sündenbocktheorie entwickelt. Diese besagt, dass die Gesellschaft Verbrecher brauche, um ihre eigene Schuld auf ihnen abzuladen und ihre Lust nach Strafe zu befriedigen.
Interessant wird diese Theorie freilich bei der Betrachtung spezieller Vorkommnisse, wie beispielsweise der Verfolgung religiöser Minderheiten. Für die Erklärung allgemeiner Kriminalität ist sie jedoch kaum relevant.
III. Die Lerntheorien
Eine wichtige Rolle bei den kriminologischen Theorien spielen die sogenannten Lerntheorien. Diese können wiederum unterkategorisiert werden.
1. Klassische und operante Konditionierung
Jeder kennt das Experiment von Pawlow und seinem Hund, das den Zusammenhang zwischen Reiz und Reflex nachweisen solle. Pawlow schloss daraus, dass auch beim Menschen Reflexe durch Lernbedingungen beeinflusst werden können (klassische Konditionierung). Entsprechend könnte Kriminalität erlerntes Reflexverhalten in bestimmten Situationen darstellen.
Die operante Konditionierung geht vom „Lernen am Erfolg“ aus, also von einem Erfolg, der aus dem Handeln des Probanden entsteht. Der Verbrecher könnte also seinen einmal errungenen Erfolg als Anreiz zu weiteren Taten nehmen.
2. Sozialkognitive Lerntheorie
Der bekannte Psychologe Bandura entwickelte die Theorie des sozialkognitiven Lernens, bei der er davon ausging, dass (kriminelles) Verhalten durch Beobachtung und Nachahmung erlernt wird. Besonders interessant ist dieser Ansatz, wenn man beleuchtet, welche Wirkungen der Konsum von gewalthaltigen Medien entfaltet.