I. Allgemeines
Durch die Einrichtung der Verfassungsbeschwerde und die ausgreifende Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, haben Grundrechte des Grundgesetzes eine enorme Bedeutung gewonnen. Sie beeinflussen Gesetzgebung und Rechtsprechung, Theorie und Praxis auf allen Gebieten des Rechts. Sie haben entscheidend zur Freiheit von Staat und Gesellschaft der Bundesrepublik Deutschland beigetragen.
1. Begrifflichkeit
Zwei Stränge lässt die geschichtliche Entwicklung erkennen: Zum einen werden die Grundrechte als dem Staat vorausliegende Menschenrechte des Individuums begriffen. Freiheit und Gleichheit der Individuen sind legitimierende Bedingung der Entstehung eines Staats. Freiheits- und Gleichheitsrechte verpflichten und begrenzen die Ausübung staatlicher Gewalt.
Zum anderen werden in der deutschen Entwicklung auch Rechte als Grundrechte verstanden , die dem Individuum nicht schon als Menschen, sondern erst als Glied des Staats zukommen, die dem Staat nicht vorliegen, sondern erst vom Staat gewährt werden. Grundlegend gilt: Eingriffe in Freiheit und Eigentum bedürfen ihrer Rechtfertigung des Gesetzes.
2. Grundrechtsfunktionen im objektiv-rechtlichen Sinne
Eine objektiv-rechtliche Funktion haben die Grundrechte zum einen dadurch, dass sie den Handlungs- und Entscheidungsspielraum des Staats begrenzen. Von seinen Gesetzgebungs-, Verwaltungs- und Rechtsprechungskompetenzen kann der Staat keinen beliebigen Gebrauch machen, sondern nur den, den die Grundrechte zulassen. Sie sind Grenze oder Aufhebung seiner Kompetenzen und insofern negative Kompetenznormen.
Beispiel dafür ist, dass der Bund die ausschließliche Gesetzgebungskompetenz für Postwesen und Telekommunikation gemäß Art. 73 Abs. 1 Nr. 7 GG hat. Die Kompetenz endet da, wo eine Beschränkung des Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnisses mit Art. 10 Abs. 2 GG unvereinbar ist.
3. Grundrechtskonforme Auslegung
Mit dem Gebot grundrechtskonformer Auslegung wirken die Grundrechte auf die Auslegung und Anwendung des einfachen Rechts durch Rechtsprechung und Verwaltung ein. Immer wieder lässt die methodisch korrekte Bemühung um die Auslegung einer Vorschrift des einfachen Rechts verschiedene Auslegungen zu.
Bei Generalklauseln und unbestimmten Rechtsbegriffen haben Rechtsprechung und Verwaltung einen besonders großen Spielraum der Auslegung. Die Bindung an die Grundrechte aus Art. 1 Abs. 3 GG verlangt, dass die Entscheidung für die eine oder andere Auslegung an den Grundrechten orientiert wird.
II. Prüfung eines Freiheitsgrundrechts
Dasjenige Prüfungsschemaa, das sich durchgesetzt hat, ist das des dreistufigen Aufbaus. Bedeutet: „Eröffnung des Schutzbereichs“, „Eingriff in den Schutzbereich des Freiheitsrechts“ und „Verfassungsrechtliche Rechtfertigung des Eingriffs“.
Prüfungsschema Freiheitsgrundrechte
- Eröffnung des Schutzbereiches
- sachlicher Schutzbereich
- PersönlicherSchutzbereich
- Eingriff in den Schutzbereich
- Verfassungsrechtliche Rechtfertigung
- Zulässige Schranke
Einfache oder spezielle Gesetzesvorbehalte; Verfassungsimmanente Grundrechtsschranke; Entgegenstehende Grundrechte Dritter; Sonstige Rechtsgüter von Verfassungsrang - Schranke-Schranke
- Formelle Voraussetzungen
Zitiergebot; Verbot der Einzelfallgesetze; Wesentlichkeitstheorie; Ordnungsgemäßes Gesetzgebungsverfahren; Bestimmtheitsgebot - Materielle Anforderungen
insb. Verhältnismäßigkeit; Wesensgehaltsgarantie; Vereinbarkeit mit sonstigem Verfassungsrecht
- Formelle Voraussetzungen
- Zulässige Schranke
1. Eröffnung des Schutzbereichs des Freiheitsrechts
Zunächst ist zu prüfen, ob der Schutzbereich des möglicherweise verletzten Freiheitsrechts eröffnet ist. Innerhalb dessen wird zwischen einem sachlichen und persönlichen Schutzbereich unterschieden.
a. Sachlicher Schutzbereich
Der sachliche Schutzbereich thematisiert die Tätigkeiten, Verhaltensweise, Rechtsgüter usw. von Freiheitsgrundrechten. Ob dieser eröffnet ist, wird durch Auslegung des jeweiligen Freiheitsgrundrechts ermittelt. Grundsätzlich gilt „In dubio pro libertate“, im Zweifel zugunsten der Freiheit.
b. Persönlicher Schutzbereich
Die Eröffnung des persönlichen Schutzbereichs wird in drei Schritten geprüft. Zunächst muss die möglicherweise betroffene Person grundrechtsfähig sein.
Definition: Grundrechtsfähig ist jeder, der generell Träger von Grundrechten sein kann. Die Grundrechtsfähigkeit richtet sich generell nach der des Zivilrechts.
Danach ist die Grundrechtsberechtigung zu prüfen. Diese baut auf der Grundrechtsfähigkeit auf.
Definition: Grundrechtsberechtigt ist derjenige, dem im konkreten Fall ein sachlich einschlägiges Grundrecht persönlich zugeordnet werden kann.
Die meisten Grundrechte stehen allen Personen zu. Daher werden sie auch „Jedermann-Grundrechte“ genannt. Das erkennt man am Wortlaut der jeweiligen Grundrechte wie „jeder, jedermann oder niemand“, was eine Allgemeinheit anspricht.
Es gibt hingegen persönlich beschränkte Grundrechte, so zum Beispiel Deutschengrundrechte. Grundrechtsberechtigt sind hier nur Deutsche iSd. Art. 116 GG. Der Wortlaut dieser Grundrechte spricht explizit von „alle Deutsche“. Jedoch wird dadurch keine Sperrwirkung entfaltet, vielmehr greift Art. 2 Abs. 2 GG als Auffanggrundrecht, aber nur mit den dort geringeren Rechtfertigungsanforderungen.
Sonderfall EU-Ausländer:
Art. 18 AEUV erwirkt die Einräumung des jeweils betroffene Grundrecht eröffneten höheren Rechtfertigungsstandards. Eine unionsrechtskonforme Auslegung des jeweils einzelnen Grundrechts ist nicht möglich, da der Wortlaut diese eindeutig eingrenzt. Daher entsteht die Gewährleistung des erhöhten Schutzes über eine entsprechend erweiterte Auslegung und Anwendung des Art. 2 Abs. 2 GG.
Sonderfall Personenmehrheiten i.S.d. Art. 19 Abs. 3 GG:
Die Grundrechte müssen seinem Wesen nach auf die inländische juristische Person anwendbar (sog. Wesensgehaltstheorie) sein. In dogmatischer Hinsicht wird durch Art. 19 Abs. 3 GG die Grundrechtsfähigkeit, welche an sich nur natürlichen Personen zukommt, auch inländischen juristischen Personen zugesprochen. Es besteht nach einer Auffassung ein Erfordernis eines personalen Substrats. Eine andere Auffassung nach bedarf es einer „grundrechtstypischen Gefährdungslage“.
Es besteht kein Grundrechtsschutz für Personenmehrheiten nach Art. 1 GG, Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG und Art. 6 GG. Eindeutig hingegen eröffnet sind die Schutzbereiche von Art. 12 GG und Art. 14 GG.
Problematisch: Juristische Personen des öffentlichen Rechts
Grundsätzlich sind juristische Personen des öffentlichen Rechts keine Grundrechtsträger, weil sie vielmehr grundrechtsgebunden sind, Art. 1 Abs. 3 GG. Grundrechtsbindung einerseits und Grundrechtsträgerschaft andererseits sind jedoch miteinander unvereinbar sind (Konfusionsargument). Ausnahmen davon sind jedoch in der Kirche bzgl Art. 4 GG zu sehen oder etwaigen Universitäten bzgl. Art. 5 GG, ebenso wie bei Rundfunkanstalten. Also bei denjenigen die gerade typischerweise von den Grundrechten erfasst sind.
c. Grundrechtsmündigkeit
Ferner bedarf es auch der Grundrechtsmündigkeit.
Definition: Grundrechtsmündig ist jeder, der fähig ist, ein Grundrecht, dessen Träger er ist, entsprechend seiner Einsichts- und Entscheidungsfähigkeit selbständig auszuüben.
Problematisch ist dies hauptsächlich in Fällen von Minderjährigen. Aber das Problem ist in der Regel nur ein kleines, da genügen Angaben im Sachverhalt vorhanden sein werden, die die etwaige Einsicht- und Entscheidungsreife darstellen. Im Hinblick auf Art. 4 Abs. 1 GG sollte eine ungefähre Altersgrenze bei 14 Jahren gezogen werden, aber auch diese ist nicht starr! Es ist immer anhand des Einzelfalls zu prüfen.
2. Eingriff
Eingriffe in den Grundrechtstatbestand bzw. den grundrechtlichen Schutzbereich sind prima facie verboten.
Definition: Ein Eingriff ist grundsätzlich jedes staatliche Handeln, dass die Grundrechtsausübung eines Einzelnen beeinträchtigt oder unmöglich macht.
Dabei gilt zu unterscheiden:
- Klassischer Eingriffsbegriff:
Wenn die Beeinträchtigung grundrechtlich geschützter Rechtsgüter final, unmittelbar, durch Rechtsakt mit hoheitlichem Imperativ erfolgt. - Moderner Eingriffsbegriff:
Erfasst auch faktische oder mittelbare Eingriffe.
Tipp: Um genauer zu verstehen, was unter die Eingriffsbegriffe fällt und wie diese zu verstehen sind, empfehlen wir diesen Artikel zum Eingriff in ein Grundrecht.
3. Verfassungsrechtliche Rechtfertigung des Eingriffs
Liegt ein Eingriff in den Schutzbereich des Freiheitsrecht vor, heißt dies noch nicht, dass dieser nicht gerechtfertigt sein kann.
Die Prüfung im einzelnen richtet sich danach, ob in den Schutzbereich eines unter Gesetzesvorbehalt stehenden Freiheitsrechts oder eines vorbehaltlos gewährleisteten Freiheitsrechts eingegriffen wird.
Ein Eingriff ist nur gerechtfertigt, wenn er sich innerhalb der verfassungsrechtlichen Schranken hält.
a. Schranke
Damit ist die Einschränkungsmöglichkeit des Grundrechts gemeint. Die Einschränkungsmöglichkeit ist dem Grundrecht direkt zu entnehmen. Dabei ist zu differenzieren zwischen:
- unmittelbare Schranken
- Gesetzesvorbehalt
- einfacher Gesetzesvorbehalt
Dieser ist den Worten “durch oder aufgrund eines Gesetzes” zu entnehmen. - qualifizierter Gesetzesvorbehalt
an das einschränkende Gesetz werden besondere Voraussetzungen gestellt, z.B. Art. 5 Abs. 2 GG “allgemein”
- einfacher Gesetzesvorbehalt
- Verfassungsimmanente Schranken
gilt immer bei vorbehaltlosen Grundrechten und meint vor allem andere Verfassungsgüter und Grundrechte Dritter
b. Schranken- Schranke
Der Gesetzesvorbehalt allein würde ein Grundrecht nicht vor übermäßiger Beschränkung schützen. Daher kennt das Grundgesetz verschiedene Grenzen des legitimen Zugriffs durch ein Gesetz auf Grundrechte.
Tipp: Darunter fällt insbesondere die Prüfung der Verhältnismäßigkeit, welche in einem gesonderten Artikel ausführlich erklärt und dargestellt wird, lies diesen Artikel!
Weitere Schranken-Schranken sollen hier nur kurz der vollständigkeitshalber erwähnt werden.
III. Prüfung eines Gleichheitsgrundrechts
Prüfung eines Gleichheitsgrundrechts
- Relevante Ungleichbehandlung
- Gleichheit der aufgeführten Fallgestaltungen (Bildung eines gemeinsames Oberbegriffs)
- Ungleichbehandlung
- Verfassungsrechtliche Rechtfertigung
- Willkürformel: Im Falle einer Ungleichbehandlungen geringerer Intensität
- Neue Formel (Eingriff höherer Intensität) v.a. Verhältnismäßigkeitsprüfung
1. Relevante Ungleichbehandlung
Vorliegend soll sich, da es sich um einen groben Überblick handeln soll, an Art. 3 Abs. 1 GG orientiert werden und nicht auf Einzelheiten der speziellen Gleichheitsgrundrechte eingegangen werden.
Anfänglich bedarf es der Frage, ob eine verfassungsrechtlich relevante Ungleichbehandlung vorliegt. Dies ist laut Rechtsprechung immer dann der Fall, wenn wesentlich Gleiches ungleich behandelt wird. Der Umkehrschluss gebietet es sodann, dass ein Vorliegen auch bejaht wird, wenn wesentlich Ungleiches gleich behandelt wird. Daraus ergibt sich der Aufbau der Prüfung.
a. Wesentliche Gleichbehandlung
Maßgeblich ist dabei, dass für die im jeweiligen Fall vorliegenden Aspekte unter einen gemeinsamen Oberbegriff (Genus proximum) gefasst werden können. Dabei handelt es sich im gewissen Maße auch um eine wertende Frage. Dieser muss mit Bedacht gewählt werden, da er den weiteren Verlauf der Prüfung prägt. Er muss bei mehreren Personen, Gruppen oder Sachverhalten die verschieden behandelten Sachverhalte vollständig und abschließend erfassen. Dadurch, dass von wesentlich gleich gesprochen wird, wird ferner lediglich eine Vergleichbarkeit gefordert und keine Identität.
b. Ungleichbehandlung
Anschließend daran ist die Ungleichbehandlung festzustellen. Diese ist in der Regel unproblematisch und sollte anhand eines Unterschiedsmerkmales lediglich herausgearbeitet und kurz darstellt werden.
Beachte: Lässt sich kein sinnvoller Oberbegriff bilden, sind die erwähnten Gruppen nicht wesentlich gleich und folglich ist die Ungleichbehandlung auch nicht verfassungsrechtlich relevant.
2. Verfassungsrechtliche Rechtfertigung
Daraufhin ist zu klären, ob die festgestellte Ungleichbehandlung verfassungsrechtlich gerechtfertigt werden kann. Ist dies nicht der Fall, liegt eine Verletzung von dem Gleichheitsgrundrecht vor.
Dabei muss jedoch differenziert werden, welche Anforderungen an die Rechtfertigung zu stellen sind. Das Bundesverfassungsgerichts hat diese Differenzierung anhand der Intensität der Ungleichbehandlungen vorgenommen.
Eine hohe Intensität wird bei personenbezogenen Ungleichbehandlungen regelmäßig angenommen. Bei sachbezogenen Ungleichbehandlungen wird eine hohe Intensität nur dann angenommen, wenn dadurch weitere grundrechtlich geschätzte Freiheiten beeinträchtigt werden. Es muss wie folgt unterschieden werden:
- Geringe Intensität: Anwendung der Willkürformel
- höhere Intensität: Anwendung der neuen Formel
a. Willkürformel
Laut Bundesverfassungsgerichts sind Ungleichbehandlungen geringerer Intensität verfassungsrechtlich zulässig, soweit der Staat nicht willkürlich handelt. Es muss folglich irgendein sachlicher Grund für die Ungleichbehandlung gegeben sein.
Definition: Willkürlich ist eine Differenzierung, wenn keine vernünftigen Erwägungen ersichtlich sind.
b. Neue Formel
Die von der Rechtsprechung entwickelte Neue Formel (die gar nicht mehr so neu ist) gibt an, dass eine Verletzung eines Gleichheitsgrundrechts dann vorliegt, wenn „eine Gruppe von Normadressaten im Vergleich zu anderen Normadressaten anders behandelt wird, obwohl zwischen beiden Gruppen keine Unterschiede von solcher Art und solchem Gewicht bestehen, dass sie die ungleiche Behandlung rechtfertigen könnten“.
Es bedarf mithin eines rechtfertigenden Grundes in einem angemessenen Verhältnis zur Ungleichbehandlung. Gemeint ist damit schlicht eine Verhältnismäßigkeitsprüfung.
Tipp: Wenn Unsicherheiten bezüglich der Prüfung der Verhältnismäßigkeit bestehen, ließ diesen Artikel.