A. Der einstweilige Rechtsschutz
Der einstweilige Rechtsschutz zielt immer auf eine vorläufige und schnelle Regelung ab, wenn der Antragssteller aus besonderen Gründen das Hauptsacheverfahren nicht abwarten kann (ein solches kann in der Regel bis zu 2 Jahren dauern). Im Verwaltungsprozessrecht lassen sich folgende Formen des einstweiligen Rechtsschutzes unterscheiden
- § 80 V 1 1. Alt VwGO: Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung
- § 80 V 1 2. Alt. VwGO: Antrag auf Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung
- § 80a VwGO: Antrag auf vorläufigen Rechtsschutz bei Verwaltungsakten mit Doppelwirkung
- § 123 I VwGO: Antrag auf einstweilige Anordnung (Regelung- oder Sicherungsanordnung)
- § 47 VI VwGO: Einstweilige Anordnung i.R.d. Normenkontrollverfahrens
Tipp: Ließ dir daher zunächst den Artikel zu § 80 V VwGO durch, um ein besseres Verständnis zu erlangen; der Artikel zu § 123 I VwGO wird dir ebenfalls fürs Verständnis zum § 80a VwGO helfen!
B. Einstweiliger Rechtsschutz des Nachbarn
§ 80a VwGO regelt den vorläufigen Rechtsschutz für Dritte, die nicht selbst unmittelbar Adressat des belastenden Verwaltungsakts sind, jedoch von der Wirkung betroffen werden (Verwaltungsakt mit Doppelwirkung). Diese Konstellation kommt insbesondere im Baurecht vor!
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Die Häufigkeit des einstweiligen Rechtsschutzes in Nachbarschaftsklausuren lässt sich auf § 212a I BauGB zurückführen:
(1) Widerspruch und Anfechtungsklage eines Dritten gegen die bauaufsichtliche Zulassung eines Vorhabens haben keine aufschiebende Wirkung.
Demnach hat der Rechtsbehelf eines Dritten gegen die dem Bauherrn erteilte Baugenehmigung keine aufschiebende Wirkung. Wenn also danach gefragt ist, was der Nachbar tun kann, damit der Bauherr von seiner Genehmigung keinen Gebrauch machen kann, wird eine Anfechtungsklage regelmäßig nicht ausreichen. Denn trotz Anfechtungsklage oder Widerspruch eines Dritten behält die Baugenehmigung ihre Genehmigungswirkung. Der Bauherr darf bauen!
Der Nachbar kann zur Sicherung seiner Interessen den Weg des einstweiligen Rechtsschutzes nach § 80a VwGO gehen. Innerhalb des § 80a VwGO gibt es verschiedene Konstellationen:
- § 80a I Nr. 1 VwGO: Der Dritte legt einen Rechtsbehelf ein, der Begünstigte stellt einen Antrag auf sofortige Vollziehung.
Bsp. Dritter wehrt sich gegen eine dem Begünstigten gewährte Subvention. - § 80a I Nr. 2 VwGO: Der Dritte legt Rechtsbehelf ein, weil dieser jedoch keine aufschiebende Wirkung hat, stellt er einen Antrag auf Anordnung der aufschiebende Wirkung. Dies ist die für das Baurecht relevante Konstellation.
Bsp. Der Dritte wehrt sich gegen die dem Begünstigten gewährte Baugenehmigung. - § 80a II VwGO: Der Betroffene legt gegen einen ihn belastenden VA Rechtsbehelf ein, der Dritte stellt einen Antrag auf sofortige Vollziehung.
Bsp. Der Bauherr wehrt sich gegen eine Beseitigungsanordnung, die den Nachbarn begünstigt.
C. Voraussetzungen des Antrags, §§ 80a I, III, 80 V VwGO
Der Antrag nach §§ 80a I Nr. 2, III, 80 V VwGO hat Aussicht auf Erfolg, wenn er zulässig und soweit er begründet ist.
I. Zulässigkeit
1. Eröffnung des Verwaltungsrechtsweges, § 40 I 1 VwGO analog
Da das Baurecht als Sonderrecht des Staates dem öffentlichen Recht zuzuordnen ist und mangels doppelter Verfassungsunmittelbarkeit auch keine verfassungsrechtliche Streitigkeit vorliegt, ist der Verwaltungsrechtsweg analog § 40 I 1 VwGO eröffnet. Es liegen keine Besonderheiten vor.
2. Statthaftigkeit des Antrags
Die Statthaftigkeit richtet sich nach dem Begehren des Antragsstellers, vgl. §§ 122 I, 88 VwGO. Damit kommt ein Verfahren nach §§ 80 V, 80a VwGO, sowie gem. § 123 I VwGO zunächst in Betracht. Nach § 123 V VwGO ist das Verfahren aus § 123 I VwGO gegenüber §§ 80 V, 80a VwGO subsidiär, weshalb letztere Verfahrensarten vorrangig zu prüfen sind.
Ein Verfahren nach §§ 80 V, 80a VwGO ist einschlägig, wenn ein Verwaltungsakt mit Drittwirkung vorliegt und die aufschiebenden Wirkung bei Widerspruch oder Anfechtungsklage entfällt.
Der Nachbar wehrt sich gegen die Baugenehmigung des Bauherrn. Diese stellt für den Bauherrn einen begünstigenden VA iSd. § 35 S. 1 VwVfG dar, während sie für den Nachbarn ein belastender ist (Drittwirkung). Er begehrt, dass dieser Verwaltungsakt aufgehoben werden soll. Mithin ist die Anfechtungsklage die richtige Wahl.
Ein Rechtsbehelf gegen die Baugenehmigung entfaltet wegen § 212a I BauGB keine aufschiebende Wirkung. Damit ist der Antrag nach §§ 80a I Nr. 2, III, 80 V, II 1 Nr. 3 VwGO statthaft.
Merke: Voraussetzungen damit ein Antrag nach §§ 80a I Nr. 2, III, 80 V VwGO statthaft ist:
- Vorliegen eines VA mit belastender Drittwirkung
- keine Erledigung, § 43 II VwVfG
- Aufhebungsbegehren
- Rechtsbehelf gegen den VA entfaltet keine aufschiebende Wirkung, § 80 II Nr. 1-4 VwGO
3. Antragsbefugnis, § 42 II VwGO analog
Der Nachbar muss geltend machen, durch den Vollzug der Baugenehmigung in einem subjektiv-öffentlichen Recht verletzt zu sein. Dies ist dann der Fall, wenn er sich auf eine Drittschützende Norm berufen kann.
Tipp: Zum Drittschutz im Baurecht empfehlen wir diesen Artikel.
4. Rechtsschutzbedürfnis
Das allgemeine Rechtsschutzbedürfnis spielt beim einstweiligen Rechtsschutz eine weitaus größere Rolle als im Rahmen einer gewöhnlichen Klage (zumindest in Klausursachverhalten).
a) Vorheriger Antrag bei Behörde
Strittig ist zunächst, ob es erforderlich ist, dass der Nachbar zuerst einen Antrag bei der Behörde stellt. Dieser Streit ergibt sich aus der Verweisung in § 80a III VwGO: Demnach kann das Gericht Maßnahmen nach § 80 V – VIII VwGO treffen. Und § 80 VI VwGO schreibt vor, dass in den Fällen des § 80 II 1 Nr. 1 VwGO ein Antrag nur zulässig ist, wenn zuvor ein Antrag bei der Behörde gestellt wurde. Die Entscheidung, ob man deshalb in allen Fällen des § 80a VwGO einen vorherigen Antrag bei der Behörde fordert, hängt davon ab, ob man die Verweisung in § 80a III VwGO als Rechtsgrund- oder Rechtsfolgenverweisung ansieht:
- Für eine Rechtsfolgenverweisung spricht die Tatsache, dass Fälle des § 80 II 1 Nr. 1 VwGO (Abgabenangelegenheiten) mit Drittwirkung überaus selten sind, sodass bei einer Rechtsgrundverweisung die Verweisung weitgehend leer laufen würde. Nimmt man eine Rechtsfolgenverweisung an, muss man folglich in derartig gelagerten Fällen einen vorherigen Antrag fordern.
- Für eine Rechtsgrundverweisung spricht aber der Ausnahmecharakter des § 80 VI VwGO. Nimmt man eine Rechtsgrundverweisung an, ist in der Regel ein vorheriger Antrag entbehrlich.
Argumente für diese Ansicht sind vor allem, dass keine sachliche Gründe für eine andere Handhabung von VA mit Drittwirkung gegenüber einseitig belastenden Verwaltungsakten erkennbar sind und dass es sich um eine pauschale Verweisung handelt und eine entsprechende Anwendung ausreicht. Schließlich kann auch aus historischen Aspekten die Meinung unterlegt werden, da nach Ihrer Entstehungsgeschichte die Vorschaltung eines verwaltungsbehördlichen Aussetzungsverfahrens auf Abgabenangelegenheiten beschränkt bleiben sollte.
b) Vorherige Einlegung eines Widerspruchs
Eine weitere Streitfrage ist es, ob vor dem Antrag bei Gericht zunächst ein Widerspruch eingelegt worden sein muss.
Dafür spricht, dass überhaupt ein Rechtsbehelf eingelegt werden muss, dessen aufschiebende Wirkung angeordnet werden kann. Die Gegenansicht wendet ein, dass durch ein solches Erfordernis praktisch die Widerrufsfrist von 1 Monat verkürzt werden würde, was zulasten des Antragsstellers ginge: die Widerrufsfrist dient nämlich vor allem als Bedenkzeit.
c) Ablauf der Rechtsbehelfsfristen
Am Rechtsschutzbedürfnis fehlt es schließlich, wenn die Rechtsbehelfsfristen in der Hauptsache eindeutig abgelaufen sind. Der einstweilige Rechtsschutz dient schließlich nicht dazu, Fristen zu verlängern.
5. Sonstige Zulässigkeitsvoraussetzungen
Auch die übrigen Zulässigkeitsvoraussetzungen müssen selbstverständlich vorliegen. Sind jedoch ohne weitere Probleme zu prüfen.
II. Begründetheit
Der Antrag ist begründet, wenn er sich gegen den richtigen Passivlegitimierten richtet und das Interesse des Nachbarn an der aufschiebenden Wirkung (Suspensivinteresse) das Interesse an der sofortigen Vollziehbarkeit (Vollzugsinteresse) wesentlich überwiegt. Dabei kommt es entscheidend auf die Erfolgsaussichten im Hauptsacheverfahren an. In der Regel handelt es sich hier um eine summarische Prüfung. Das macht für den Klausursachverhalt hingegen keinen Unterschied und soll daher nur der vollständigkeitshalber erwähnt werden.
Hier ist also in der Klausur inzident das Hauptsacheverfahren zu prüfen. Die Einkleidung in § 80a VwGO eignet sich damit immer auch hervorragend als Schachtelprüfung!
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