Allgemeines zu Art. 1 GG
In Art. 1 Abs. 1 GG ist niedergeschrieben:
Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.
Prüfungsschema: Verletzung der Menschenwürde, Art. 1 Abs. 1 GG
- I. Schutzbereich
- 1. Persönlicher Schutzbereich: jeder Mensch
- 2. Sachlicher Schutzbereich: Menschenwürde
- II. Eingriff in den Schutzbereich: Degradierung zum bloßen Objekt (“Objektformel”)
- III. Verfassungsrechtliche Rechtfertigung: nicht möglich!
Achtung: Es muss erwähnt werden, dass gerade in Klausurfällen die Verletzung von Art. 1 Abs. 1 GG eher zurückhaltend angenommen werden sollte, da eine umfangreiche Prüfung der verfassungsrechtlichen Rechtfertigung entfällt!
I. Schutzbereich
1. Persönlicher Schutzbereich
Grundsätzlich ist jede natürliche Person Träger des Grundrechts der Menschenwürde. Sie beschützt auch Kinder, Geisteskranke oder Straftäter. Es kommt nicht zwingend darauf an, ob sich der Träger seiner Würde bewusst ist oder sie selbst zu wahren weiß (BVerfGE 39, 1/41 f).
Sehr umstritten ist, ob auch das werdende Leben (sog. nasciturus) grundrechtsfähig ist. Das BVerfG hat dies in beiden Fällen offen gelassen, dennoch anerkannt, dass das werdende Leben Schutzgut des Art. 1 Abs. 1 GG ist. Demgemäß folgt aus Art. 1 Abs. 1 GG eine sachliche Schutzverpflichtung zu Gunsten des nasciturus.
Daneben hat das BVerfG auch einen fortbestehenden Anspruch auf Achtung der Menschenwürde bei Toten angenommen (BVerfGE 30, 173/196 f.). Dieser Anspruch kann von den Angehörigen eines Toten geltend gemacht werden.
2. Sachlicher Schutzbereich
Der Schutzbereich der Garantie der Menschenwürde lässt sich nur schwer allgemein definieren. Meist wird er beschrieben, als der „allgemeine Eigenwert, der dem Menschen kraft seiner Persönlichkeit zukommt“, BVerfGE 30, 173/214. Oder besser:
Mit Menschenwürde wird der unantastbare geistig-sittliche Wert eines jeden Menschen bezeichnet. Dieser umfasst auch den sozialen Achtungsanspruch des Menschens, der es verbietet, diesen zu einem bloßen Objekt des Staates zu machen.
Grds. werden zwei Ansätze zur Bestimmung des Begriffs der Menschenwürde angeführt.
- Nach der Mitgifttheorie ist die Menschenwürde eine dem Menschen von Gott und/oder der Natur mitgegebener Wert. Sie orientiert sich an der Lehre Kants und der Naturrechtslehre. Für diese Theorie spricht insbesondere, dass auch der parlamentarische Rat auf diese Lehren zur Schaffung des Art. 1 Abs. 1 GG zurückgegriffen hat.
- Nach der Leistungstheorie ist das Kernelement der Menschenwürde ist die “Leistung” eines jeden Menschen, die zur Identitätsbildung führt. Dieser Theorie zufolge erlangt der Mensch seine Würde durch eigenes selbstbestimmtes Verhalte. Die Theorie knüpft nicht an philosophische Grundsätze an, sondern an andere verfassungsrechtliche Grundprinzipien; bspw. Wahrnehmung der Freiheitsgrundrechte, welche ebenfalls identitätsbildend wirken
Wie aufgezeigt, lässt sich die Menschenwürde in ihrem Gehalt schwer umreißen.
Die Mitgifttheorie stellt klar, dass dem Einzelnen die Menschenwürde von sich aus anhaftet, von ihm also nicht erworben und auch nicht verloren werden kann. Jedoch hilft sie grundsätzlich wenig dahingehend weiter, ihren sachlichen Gehalt zu bestimmen.
Die Leistungstheorie hingegen stellt klar, dass der Einzelne den Kern der Menschenwürde durch eigene Entscheidungen und sein Verhalten (“Leistungen”) selbst bestimmt. Jedoch erscheint die Theorie problematisch im Hinblick auf handlungsunfähige und handlungsunwillige Personen. Diese sind zur Identitätsbildung außer Stande, können jedoch umfraglich nicht ihrer Menschenwürde entledigt sein (vgl. Mitgifttheorie).
Allgemein scheint es daher zweckmäßig nicht auf eine positive Bestimmung des Schutzbereiches abzustellen, sondern in negativer Hinsicht die Frage zu stellen:
Ist im konkreten Einzelfall die Schwelle der Unzumutbarkeit gemessen an den jeweiligen gesellschaftlichen und ethischen Normwerten überschritten oder nicht?
Beachtlich ist auch, dass der Einzelne seine Menschenwürde nicht zur Disposition stellen kann. D.h. liegt entsprechend den Theorien ein Eingriff in die Menschenwürde vor, kann dieser nicht mit dem Willen des jeweiligen Grundrechtsträger gerechtfertigt werden.
II. Eingriff
Ein Eingriff in Art. 1 Abs. 1 GG liegt der “Objektformel” entsprechend vor, wenn der Mensch zum “bloßen Objekt staatlichen Handelns” degradiert wird.
Wann eine solche Degradierung vorliegt ist in Einzelfällen sehr umstritten, sollte jedoch sehr restriktiv ausgelegt werden.
Eine Degradierung zum Objekt liegt beispielsweise vor bei Sklaverei, Menschenhandel, Folter, Gehirnwäsche, Brechen des Willens durch Drogen oder Hypnose oder auch beim Entzug des Existenzminimums.
Während eine Degradierung zum Objekt vom Bundesverfassungsgericht abgelehnt wurde bei der Zahlung einer Geldbuße im Ordnunsgwidrigkeitsverfahren (BVerfGE 9, 167,171), bei der Leichenöffnung im Ermittlungsverfahren (BVerfG in NJW 1994, S. 783f.) und der Ladung zum Verkehrsunterricht (BVerfGE 22, 21, 28).
Problematisch sind die „Kinder als Schaden“-Fälle, bei denen es um die Verantwortung eines Arztes nach einer fehlgeschlagenen Sterilisation oder der fehlerhaft genetischen Besprechung vor der Zeugung eines Kindes geht.
- Entscheidung Erster Senat, BVerfG, NJW 1998, 519, 523: Kein Verstoß gegen Art. 1 Abs. 1 GG. In der Verlagerung der Unterhaltspflicht auf Dritte, ist kein Unwerturteil über den anwesenden Unterhaltsberechtigten zu sehen.
- Entscheidung Zweiter Senat, BVerfG, NJW 1998, 519, 523: Gegensätzliche Ansicht, in der Geschichte des BVerfG einmaliger Vorgang. Lesen Sie selbst, BGH, NJW 2000, 1782.
Merke: Eingriffe in die Menschenwürde sind immer unzulässig. Folgen Sie während ihrer Grundrechtsprüfung einer Senatsentscheidung.
III. Schranke
Die Garantie der Menschenwürde unterliegt keinen Hindernissen „unantastbar“, sodass jeder Eingriff eine Verletzung darstellt.
Da Art. 1 Abs. 1 GG gem. Art. 79 Abs. 3 GG nicht einmal im Rahmen einer Verfassungsänderung zur Disposition stehen kann, können auch Eingriffe in Art. 1 Abs. 1 GG nie gerechtfertigt werden.
Beispielsfall: “Zwergenweitwurf”
Emil (E) ist Betreiber einer Diskothek, die nur mühsam läuft. Damit E neue Kunden gewinnen kann, beschließt er mit dem kleinwüchsigen (K), dass sich dieser an jedem Samstag des Monats für Wettkämpfe im „Zwergenweitwurf“ zur Verfügung stellt. Die berechtigte Geschäftsstelle verweigert die notwendige Zustimmung. Sie nimmt an, dass die Aufführung den guten Sitten nicht standhalten werde, § 33a Abs. 2 Nr. 2 GewO. [VG Neustadt, NVwZ 1993, 98]
Stellt der “Zwergenweitwurf” eine Verletzung des K in Art. 1 Abs. 1 GG dar?
Ein Verstoß gegen die guten Sitten könnte vorhanden sein, wenn die Veranstaltung des Zwergenweitwurf die Menschenwürde verletzen würde, deren Schutz der staatlichen Gewalt in Art. 1 Abs. 1, S. 2 GG ausdrücklich aufgetragen wird.
Hier wird der “Zwerg” wie ein Sportgerät behandelt und zum Gegenstand der Volksbelustigung entwertet, wonach keinesfalls die kunstgerechte Handhabung des K im Vordergrund steht. Es geht dabei nur um die berechenbare Dominanz, dies mit Hilfe an einer großwüchsigen Person darzustellen.
Dass der K die Teilnahme aus freien Stücken versprochen hat und diese Aufführung nicht demütigend empfindet, ist unbedeutend (vgl. Stellungnahme zu den Theorien, oben).
Der “Zwergenweitwurf” stellt eine Verletzung des Art. 1 Abs. 1 GG dar.
Merke: Es geht hier nicht um die Menschenwürde des Einzelmenschen, hier des K, sondern um das tatsächliche Würdebild des Grundgesetzes, das im Interesse der Allgemeinheit geschützt wird.
Tipp: Schau dir unser kostenloses Video zum Schutz der Menschenwürde, Art. 1 Abs. 1 GG an.
Quelle
- Pieroth/Schlink; Grundrechte, Staatsrecht II; 26. Auflage, 2010.