Myotone Dystrophien

Myotone Dystrophien sind autosomal-dominant vererbbare Erkrankungen, von denen es 2 Hauptformen gibt: Myotone Dystrophie Typ 1 (DM1) und Myotone Dystrophie Typ 2 (DM2). Myotone Dystrophien sind heterogene Erkrankungen, die hauptsächlich die Muskulatur betreffen, aber im Gegensatz zu anderen Muskeldystrophien auch multisystemische Effekte haben. Sowohl DM1 als auch DM2 präsentieren sich mit Myotonie, Muskelparesen und Myalgien. Die Klinik ist bei DM1 schwerer ausgeprägt. Zudem kommt es bei DM1 im Gegensatz zu DM2 zu einer reduzierten Lebenserwartung. Zur Diagnostik gehören mitunter die klinische Untersuchung, genetische Tests, die Elektromyografie (EMG) und auch die Labordiagnostik. Die Therapie ist in erster Linie supportiv.

Aktualisiert: 21.06.2023

Redaktionelle Verantwortung: Stanley Oiseth, Lindsay Jones, Evelin Maza

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Überblick

Definition

Myotone Dystrophien sind autosomal-dominant vererbbare Muskelerkrankungen, bei denen es zu einer verzögerten Muskelrelaxation kommt. Es kommt des Weiteren zu einer progressiven Muskelparese und -atrophie.

Epidemiologie

  • Häufigste Muskelerkrankung von Erwachsenen in Europa (Prävalenz 5,5/100.000)
  • Ähnliche Prävalenz zwischen DM1 und DM2

Klassifikation

  • DM1 (Typ Curschmann-Steinert):
    • Schwerere Symptomatik als DM2
    • Positive Korrelation der CTG-Repeats mit der Krankheitsschwere
    • Kongenitale Form:
      • I.d.R. > 1.000 CTG-Repeats
      • Hypotonie Hypotonie Hypotonie und Mortalität bis zu 40 %
      • 80 % der Betroffenen: mechanische Beatmung, Kardiomyopathie Kardiomyopathie Kardiomyopathien: Übersicht & Vergleich mit frühem Tod als Folge
      • Überlebende Kinder: Fußdeformitäten und geistige Behinderungen
      • Entwicklung der klassischen Symptome von Erwachsenen mit DM1 mit zunehmendem Alter
    • Kindesalter:
      • Erkrankungsalter < 10 Jahre
      • Geistige Beeinträchtigung initial bemerkbar
      • Ggf. muskuläre Symptome
      • Kardiale Reizleitungsstörungen (AV-Block oder Schenkelblock), v.a. bei körperlicher Aktivität
    • Klassische Form:
      • Symptombeginn zwischen 2.-4. Lebensdekade
      • Schwäche der Skelett- und Atemmuskulatur, Myotonien, Katarakte, Arrhythmien und Tagesschläfrigkeit Tagesschläfrigkeit Narkolepsie
      • Reduzierte Lebenserwartung
    • Milde Form:
      • < 150 CTG-Repeats
      • Milde Myotonie, Katarakte
      • Erkrankungsbeginn: ca. 40 Jahre
      • Normale Lebenserwartung
  • DM2 (proximale myotone Myopathie [PROMM]):
    • Viel milder als DM1
    • Einsetzen im Erwachsenenalter
      • Erkrankungsalter: Jugend bis 60. Lebensjahr

Pathophysiologie

  • DM1:
    • Mutation des Dystrophia-myotonica-Proteinkinase (DMPK)-Gens auf Chromosom Chromosom Grundbegriffe der Genetik 19
    • CTG-Repeat-Expansion
    • Folgen:
    • Antizipation:
      • ↑ CTG-Repeats → früheres Auftreten und positive Korrelation mit der Krankheitsschwere
  • DM2:
    • Mutation des CNBP (CNBP [Synonym: ZNF9])-Gens auf Chromosom Chromosom Grundbegriffe der Genetik 3
    • CCTG-Repeat-Expansion
    • Ähnlich pathologisches Spleißen und ähnliche Dysfunktion anderer Gene
    • Keine Antizipation
Histopathologische Aufnahme mit Nachweis der myotonen Dystrophie Typ 2

Histopathologische Aufnahme mit Nachweis der myotonen Dystrophie Typ 2

Bild: „DM2 Histopathology“ von Marvin 101. Lizenz: CC BY 3.0

Klinik

Beide Arten der myotonen Dystrophie verursachen eine Myotonie. Die Muskelrelaxation ist verzögert und erschwert. Zudem kommt es zu Muskelparesen und -atrophien.

DM1

Symptome:

  • Muskelparese (dominierend):
    • Gesichtsmuskulatur (Facies myopathica):
      • Hohle Wangen
      • Längliches Gesicht
      • Ptosis
      • Herabhängender Unterkiefer
      • Hypomimie
    • Distale Extremitätenmuskulatur
      • Langsame Verschlechterung von Gang und Stabilität (u.a. Steppergang)
      • Erhebliches Sturzrisiko
    • Halsmuskulatur → Schwierigkeiten, den Kopf hochzuhalten
  • Myalgien (nicht dominierend)
  • Myotonie:
    • Betroffene Partien:
      • Distale Muskulatur der oberen Extremitäten → Verzögertes Öffnen der Hand Hand Hand nach Händeschütteln (Dekontraktionshemmung)
        • Bsp.: Perkussion des Daumenballens → Kontraktion und verzögerte Relaxation der Muskulatur (Perkussionsmyotonie)
      • Gesichtsmuskulatur → Verzögerte Lidöffnung nach Lidschluss
      • Zunge Zunge Mundhöhle: Lippen und Zunge
    • Verschlimmerung durch Kälte und Stress

Extramuskuläre Manifestationen:

DM2

  • Leichtere Symptome, aber ähnlich wie bei DM1
  • Proximale Extremitätenmuskulatur (v.a. Hüfte und Oberschenkel Oberschenkel Oberschenkel):
    • Schwierigkeiten beim Treppensteigen
    • Schwierigkeiten, von einem Stuhl aufzustehen
  • Muskulatur von Schultern und Ellbogen → Schwierigkeiten beim Halten oder Heben von Gegenständen
  • Myotonie geringer ausgeprägt
  • Myalgien dominierend
  • Tremor (nicht bei DM1 existent)
  • Hyperhidrosis (nicht bei DM1 existent)
Klinische Präsentation von zwei Erwachsenen mit myotoner Dystrophie

Klinik von 2 Erwachsenen mit myotoner Dystrophie
A: Atrophie von Unterarm und Unterschenkel bei einem Patienten mit DM1
B: Patient mit DM2, aber ohne ersichtliche Atrophie. Die Klinik ist hier milder und es ist eher die proximale Muskulatur betroffen

Bild: “Differences in clinical presentation of adult DM1 and DM2” von Schoser B., Timchenko L. Lizenz: CC BY 2.5

Diagnostik und Therapie

Diagnostik

  • Klinische Untersuchung
  • Genetische Testung:
    • DM1: CTG-Repeat-Expansion im DMPK-Gen
    • DM2: CCTG-Repeat-Expansion im CNBP-Gen
  • Elektromyografie (EMG; Messung der elektrischen Aktivität eines Muskels)l:
    • Diagnostische Bestätigung bei auffälliger genetischer Testung
    • Korrelation des Schweregrades der Myotonie mit der Parese bei DM1, jedoch nicht bei DM2
  • Labordiagnostik:
    • ↑ CK (Kreatininkinase) in beiden Typen
    • ↓ IgG und IgM (Hypogammaglobulinämie)
    • Insulinresistenz, HBA1c und Blutzucker erhöht
    • Transaminasen- und GGT-Erhöhung
    • Schilddrüsenparameter
  • Augenärztliche Untersuchung auf Katarakt Katarakt Katarakt bei Erwachsenen
  • EKG-Ableitung mit Langzeit-EKG
  • Lungenfunktionsprüfung
  • Muskelbiopsie zur Differentialdiagnostik von muskulären und neuronalen Erkrankungen

Therapie

  • Nicht heilbar
  • Supportive Therapie:
  • Genetische Beratung
  • Aufklärung über erhöhtes Risiko für pulmonale Komplikationen unter Vollnarkose
  • Prognose:
    • Verkürzte Lebenserwartung für Betroffene mit DM1
    • Normale bis nahezu normale Lebenserwartung für Betroffene mit DM2

Differentialdiagnosen

  • Myotonia congenita: Sie gehört zu den nicht-dystrophen Myotonien. Es gibt sowohl autosomal-rezessive (Typ Becker) als auch autosomal-dominante (Typ Thomsen) Formen. Der Auslöser sind Mutationen im CLCN1-Gen, einem Chloridkanalgen. Die Klinik ist variabel, beginnt jedoch in der Kindheit mit Muskelrigidität und -paresen. Es kann zu Komplikationen während einer Anästhesie kommen. Repetetive Muskelkontraktionen können die Myotonie vorübergehend verbessern (Warm-up-Phänomen). Auch hier besteht keine kausale Therapie. In seltenen Fällen wird die Myotonie z.B. mit Mexiletin behandelt.
  • Paramyotonia congenita Eulenburg: Sie ist eine autosomal-dominant vererbbare Erkrankung, die durch Mutationen im SCN4A-Gen verursacht wird. Die Symptome der Myotonie verschlimmern sich bei körperlicher Betätigung und repetetiven Bewegungen. Die Myotinie ist besonders ausgeprägt in der Muskulatur des Gesichts, des Nackens, des Rückens, der oberen Extremitäten und der Atemmuskulatur. Die Diagnostik erfolgt durch EMG und genetische Testung. Es kommt weder zu einer Symptomverschlechterung noch zu einem progredienten Krankheitsverlauf. Die Therapie erfolgt supportiv.
  • Adulte Form des Morbus Pompe Morbus Pompe Glykogenspeicherkrankheiten (Glykogenose Typ II): Bei dieser Erkrankung herrscht ein Mangel an saurer Maltase vor. Früher wurde angenommen, dass es sich nur um eine Erkrankung des Säuglingsalters handelt, die sich mit Makroglossie, Leberfunktionsstörung und Herzbeteiligung manifestiert. Die adulte Form weist eine progressive Muskelparese auf und betrifft manchmal die Atemmuskulatur. Die Diagnostik erfolgt durch Histologie, Röntgen Röntgen Röntgen, EKG EKG Normales Elektrokardiogramm (EKG) und den Nachweis eines Enzymmangels. Zur Therapie verwendet man Enzymersatzprodukte.

Quellen

  1. Darras, B.T. (2021). Myotonic dystrophy: Etiology, clinical features, and diagnosis. https://www.uptodate.com/contents/myotonic-dystrophy-etiology-clinical-features-and-diagnosis (Zugriff am 15.06.2021)
  2. Darras, B.T. (2021). Myotonic dystrophy: Treatment and prognosis. In Dashe, J.F. (Ed.), UpToDate. https://www.uptodate.com/contents/myotonic-dystrophy-treatment-and-prognosis (Zugriff am 20.06.2021)
  3. Bird, T.D. (2021). Myotonic dystrophy type I. GeneReviews. https://www.ncbi.nlm.nih.gov/books/NBK1165/ (Zugriff am 15.06.2021)
  4. Vydra, D.G., Rayi, A. (2021). Myotonic dystrophy. StatPearls. https://www.ncbi.nlm.nih.gov/books/NBK557446/ (Zugriff am 20.06.2021)
  5. Rubin, M. (2020). Myotonic dystrophy (Steinert disease). MSD Manual Professional Version. https://www.msdmanuals.com/professional/pediatrics/inherited-muscular-disorders/myotonic-dystrophy (Zugriff am 20.06.2021)
  6. Deutsche Gesellschaft für Muskelkranke e.V.. Myotone Dystrophie. https://www.dgm.org/muskelerkrankungen/myotone-dystrophie (Zugriff am 23.06.2022)
  7. Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften (AWMF) – Ständige Kommission Leitlinien. S1-Leitlinie. Myotone Dystrophien, nicht-dystrophe Myotonien und periodische Paralysen. AWMF-Registernummer: 030/055. https://www.awmf.org/uploads/tx_szleitlinien/030-055l_S1_Myotone-Dystrophien_2020-10-abgelaufen.pdf(Zugriff am 23.06.2022)
  8. Deutsche Apotheker-Zeitung (2019). Mexiletin in neuer Mission. Zulassung erleichtert Behandlung seltener Muskelerkrankungen. https://www.deutsche-apotheker-zeitung.de/daz-az/2019/daz-33-2019/mexiletin-in-neuer-mission (Zugriff am 23.06.2022)
  9. Myotonic Dystrophy Foundation (2018). Konsensbasierte Behandlungsempfehlungen für erwachsene Patienten mit Myotoner Dystrophie Typ 2. https://www.myotonic.org/sites/default/files/pages/files/MDF_Consensus-basedCareRecsAdultsDM2_German_1_21.pdf (Zugriff am 23.06.2022)