Kindesmisshandlung, -missbrauch, -vernachlässigung

Überblick

Definition

Alleiniges oder in Kombination auftretendes Vorkommen von: Körperlicher Misshandlung, emotionaler Misshandlung, körperlicher Vernachlässigung, emotionaler Vernachlässigung oder sexuellem Missbrauch von Kindern im Alter von 0 bis 18 Jahren.

Klassifikation

Es gibt 4 Hauptarten der Kindesmisshandlung:

• Vernachlässigung:
  • Unfähigkeit, die körperlichen, medizinischen oder schulischen Anforderungen eines Kindes zu erfüllen
  • Häufigste Form der Kindesmisshandlung
• Körperlich:
  • Vorsätzliche Verletzung, die starke Schmerzen verursacht
    • Beeinträchtigung der körperlichen Funktion
    • Kann eine physische Spur hinterlassen
  • Beispiele: Verbrennungen Verbrennungen Verbrennungen, Schläge, Schütteln, Beißen
  • “Shaken-baby”-Syndrom:
    • Traumatische Hirnverletzungen infolge von Scherkräften, wenn ein Säugling geschüttelt wird
    • Kann zu einem subduralen Hämatom oder einer diffusen axonalen Verletzung führen
  • Medizinisch:
    • Auch bekannt als Münchhausen-a-proxy-Syndrom
    • Eine Betreuungsperson stellt ein Kind fälschlicherweise zur ärztlichen Behandlung vor, indem sie eine Krankengeschichte erfindet oder die Krankheit des Kindes direkt verursacht, indem sie es z.B. einem Gift, einem Medikament oder einem infektiösen Erreger aussetzt.
• Sexuell:
  • Beteiligung eines Kindes an sexuellen Aktivitäten, die es nicht verstehen oder denen es nicht zustimmen kann
  • Umfasst sexuelle Handlungen und Berührungen im Anal-, Genital- oder Mundbereich
• Emotional:
  • Eine Handlung, die ein Kind beeinträchtigt und zu negativen Auswirkungen und zukünftigen psychischen Erkrankungen führen kann
  • Dazu gehören Beschimpfungen, Demütigungen, Gewaltandrohungen, Ablehnung
  • Am wenigsten berichtet, da schwer zu erkennen und zu dokumentieren

Epidemiologie

• Anstieg der Meldungen der Kindeswohlgefährdung (von 2016 bis 2017 um 4,6 %)
• Anzeichen für Vernachlässigung bei 60,8 % der Kinder (2017)
• Anzeichen für psychische Misshandlungen bei 29,6 % der Kinder (2017) – häufig verkannt
• Anzeichen für körperliche Misshandlung bei 26 % der Kinder (2017) – höchste Mortalität, vor allem “Shaken-baby”-Syndrom
• Anzeichen für sexuellen Missbrauch bei 4,6 % der Kinder (2017)
• Altersverteilung wie folgt:
  • <3 Jahre 23,3 %
  • 3-5 Jahre 19,2 %
  • 6-9 Jahre 22,6 %
  • 10-13 Jahre 19,3 %
  • 14-17 Jahren 15,7 %

Risikofaktoren

• Faktoren der Betreuungsperson:
  • Missbrauchsanamnese in der eigenen Kindheit
  • Substanzmissbrauch
  • Psychische Krankheit
  • Häusliche Gewalt in der elterlichen Beziehung
  • Plötzliche schwere Lebenskrise (z.B. Verlust des Arbeitsplatzes oder der finanziellen Sicherheit, Verlust der Wohnung, Verlust der Ehepartner*innen)
  • Emotionale und soziale Isolation
• Faktoren der betroffenden Person:
  • <3 Jahre alt
  • Bei der Geburt von der Mutter getrennt (gestörte Bindung)
  • Retardierung, angeborene Anomalie
  • Kind im Pflegeheim
  • Kind mit trotzig/oppositionellem Verhalten
  • Emotionale Probleme
  • ADHS ADHS Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätssyndrom (ADHS)
• Gesellschaftliche Faktoren:
  • Armut
  • Unfähigkeit, sich gute und qualitativ hochwertige Kinderbetreuungsprodukte und -dienstleistungen zu leisten
  • Fehlende staatliche Unterstützung für Sozialprogramme, Gesundheitsversorgung
  • Gefährliche Nachbarschaften
  • Mangel an Freizeiteinrichtungen und Gemeinschaftsaktivitäten für Kinder

Klinik

Gedeihstörung Gedeihstörung Gedeihstörung ist die häufigste Form der Kindesmisshandlung. Häufige Besuche in der Notaufnahme oder eine verzögerte Vorstellung mit Verletzungen, die nicht mit der Anamnese übereinstimmen, sind ein Warnsignal. Die folgenden Merkmale in der Anamnese und der körperlichen Untersuchung erhöhen die Wahrscheinlichkeit für eine Misshandlung:

Körperliche Misshandlung

Anamnese:

• Wechselnde oder widersprüchliche Ereignisse, die zu einer Verletzung führen, mit widersprüchlichen Berichten von Betreuungspersonen
• Wiederkehrende “Unfälle” oder Verletzungen und Krankenhausaufenthalte
• Verzögerung bei der Inanspruchnahme oder Bereitstellung medizinischer Versorgung
• Verletzungen, die nicht mit den Meilensteinen vereinbar sind (z.B. blaue Flecken an einem Kind, das noch nicht krabbelt oder läuft)

Körperliche Untersuchung:

• Beobachtung der Interaktion zwischen Kind und betreuende Person, die einen fehlenden Augenkontakt und Apathie erkennen lässt
• Alte und neue, großflächige Prellungen:
  • An nicht exponierten oder ungewöhnlichen Stellen (z.B. Gesäß, Genitalien, Beugeseiten, Ohren)
  • Gemustert, in der Regel in Form eines Gegenstands (z.B. Hand Hand Hand, Knöchel, Gürtel, Kordeln, Schuhe)
• Die folgenden Frakturen deuten stark auf Misshandlung hin:
  • Posteriorer Teil der Rippen Rippen Brustwand
  • Scapula
  • Dornfortsätze der Wirbelkörper
  • Sternum Sternum Brustwand
• Bisswunden (1 oder 2 gegenüberliegende Bögen)
• Brandflecken:
  • Form des verursachenden Gegenstands (z.B. Dampfbügeleisen, Lockenstab, heiße Platte, Zigarettenbrandwunden (runde Spuren))
  • Symmetrisches Muster mit gleicher Verbrennungstiefe
  • Durch Eintauchen in heiße Flüssigkeiten (faltenschonend) mit deutlicher Abgrenzung
• Abdominelle Schmerzen
• Orale Läsionen (z.B. gerissenes Lippenbändchen, Blutergüsse, gebrochene Zahnteile)

“Shaken-baby”-Syndrom:

• Netzhautblutungen
• Lethargisch
• Gespannte Fontanelle Fontanelle Schädelknochen: Anatomie des Schädels, Aufbau und Funktion
• Krampfanfälle Krampfanfälle Krampfanfälle im Kindesalter

Sexuelle Misshandlung

Anamnese:

• Die Schilderung der Ereignisse durch das Kind ist das wichtigste Merkmal.
• Kenntnis über eindeutigem Sexualverhalten
• Sexuelles Verhalten, das für das Alter unangemessen ist, wie z.B. sich ausziehen oder die Genitalien anderer berühren
• Wiederkehrende Harnwegsinfektionen
• Vorliegen einer sexuell übertragbaren Krankheit

Körperliche Untersuchung (immer mit einer Begleitperson):

• In der Mehrzahl der Fälle (96 %) ist die anogenitale Untersuchung unauffällig.
• Die Untersuchung muss innerhalb von 24–72 Stunden nach dem Ereignis durchgeführt werden (Probenentnahme).
• Fissuren oder Risse in den Mundwinkeln
• Kontusionen des Zahnfleisches und des Gaumens
• Quetschungen, Rötungen, Risse, Abschürfungen oder Risswunden an den Genitalien und/oder dem Analsphinkter
• Vaginaler Ausfluss kann sein:
  • Spermasekretion
  • Anzeichen für eine sexuell übertragbare Infektion
• Condylomata accuminata (HPV-Infektion)

Emotionale Misshandlung

Anamnese:

• Schlechte schulische Leistungen
• Aggressives, trotziges Verhalten
• Häufige körperliche Beschwerden

Körperliche Untersuchung:

• Keine Bindung zu Hauptbezugsperson
• Anzeichen von geringem Selbstwertgefühl, Angstzuständen oder Depressionen

Vernachlässigung

Anamnese:

• Die Betreuungsperson ist sich der medizinischen Vorgeschichte oder der fehlenden Nachsorge nicht bewusst.
• Häufig wird das Kind in die Obhut von Erwachsenen gegeben, die nicht blutsverwandt sind.

Körperliche Untersuchung:

• Kind ungepflegt
• Gedeihstörung Gedeihstörung Gedeihstörung
• Zahnkaries
• Dehydriert und unterernährt
• Ausgedehnter Windelausschlag
• Ungereinigte Wunden

Diagnostik

Wichtig ist das Erkennen von Risikofaktoren und “Red flags”, die sich aus der Anamnese und der körperlichen Untersuchung ergeben, und einen hohen Verdachtsindex haben. Um den Verdacht zu bestätigen, muss eine gründliche körperliche Untersuchung, einschließlich einer augenärztlichen und neurologischen Untersuchung, durchgeführt werden.

Um so viele Informationen wie möglich zu sammeln, muss die ärztliche Person:

• Nicht verurteilend vorgehen
• Eine organisierte Abfolge von Ereignissen einhalten
• Dem Kind erlauben sich selbst zu erinnern, um die Implementation von Ideen und eine erneute Viktimisierung zu vermeiden
• Verwendung von offenen Fragen, um dem Kind die Chance zu geben, die Ereignisse als Geschichte im eigenem Tempo zu erzählen

Die Untersuchung umfasst:

• Übersicht über das Skelettsystem:
  • Mögliche Ansichten → anteroposteriore (AP) und laterale Aspekte des Schädels; laterale Wirbelsäule Wirbelsäule Wirbelsäule; AP, rechts-posterior-oblique und links-posterior-oblique des Brustkorbs, AP des Beckens; AP jedes Oberschenkels; AP jedes Beins; AP jedes Oberarms; AP jedes Unterarms; posteriore und anteriore Ansichten jeder Hand Hand Hand; AP (dorsoventral) jedes Fußes
  • Frakturen an mehreren Stellen und mehrere Heilungsstadien deuten auf körperliche Misshandlung hin
• Nichtkontrast-CT-Aufnahme des Kopfes → intrakranielles/subdurales Hämatom (“Shaken-Baby-Syndrom”)
• Untersuchung Gerinnungsstörungen zum Ausschluss einer Blutungsstörung bei starken Blutergüssen
• In Fällen von sexuellem Missbrauch:
  • Urinanalyse
  • Beta-hCG (b-hCG) zum Ausschluss einer eventuellen Schwangerschaft Schwangerschaft Schwangerschaft: Diagnostik, mütterliche Physiologie und Routineversorgung
  • STD (“Sexually transmitted diseases”)-Panel

In Fällen von sexuellem Missbrauch:

• Das Kind hat möglicherweise Schwierigkeiten, Informationen verbal weiterzugeben.
• Alternative Möglichkeit: Das Kind zeichnen lassen, was passiert ist, die Ereignisse mit anatomisch korrekten Puppen darstellen oder über die Ereignisse schreiben.
• Es muss eine Probenentnahme erfolgen:
  • Vergewaltigungskits werden häufig in Notaufnahmen verwendet
  • Vaginal- oder Penissekrete
  • Ungewaschene Kleidung, die nach den Ereignissen benutzt wurde
  • Fingernagelabrieb
  • Haarproben
  • Blutprobe
  • Speichelprobe
  • Dokumentation von so viel wie möglich per Fotos und Videos
  • Alle Elemente, die bei der betroffenen Person gefunden oder von ihm/ihr zur Verfügung gestellt wurden, müssen bei der Entnahme verpackt und gekennzeichnet und in die Beweiskette eingefügt werden.

Therapie

Ärzt*innen sind gesetzlich verpflichtet, alle Fälle den Kinderschutzbehörden zu melden. Die Dokumentation aller diagnostischen Schritte und Besuche ist unerlässlich, um einen Verdacht zu erhärten.

Therapie

• Ziel: Das Kind vor Schaden und Gefahr bewahren.
• Sicherstellen, dass das Kind stabil ist und alle lebensbedrohlichen Verletzungen behandelt werden
• In Fällen von sexuellem Missbrauch: Prophylaxe von Geschlechtskrankheiten, einschließlich HIV HIV Retroviren: HIV, innerhalb von 72 Stunden nach dem Vorfall
• Multidisziplinärer Teamansatz mit Ärzt*innen, Kinderärzt*innen, Pflegenden, Psycholog*innen, Psychiater*innen und Sozialarbeiter*innen
• Eine langfristige Nachsorge ist erforderlich, um sicherzustellen, dass das Kind alle Entwicklungsstufen erreicht und nicht an einer psychiatrischen Erkrankung leidet.

Ziele: Prävention und Intervention

• Angebot von Unterstützungs- und Hilfemaßnahmen vermitteln (Herausforderung: Freiwilligkeit der beteiligten Kinder und Jugendlichen und der Personensorgeberechtigten)
• Frühzeitiges Erkennen einer möglichen Gefährdung von Kindern und Jugendlichen
• Schutzmaßnahmen für Kinder und Jugendliche einleiten
• Die Medizinische Kinderschutzhotline (Tel. 0800 19 210 00) kann als niedrigschwelliges und bundesweites Beratungsangebot für Angehörige der Heilberufe genutzt werden.

Klinische Relevanz

Die folgenden Zustände sind Teil der Differentialdiagnosen von Kindesmisshandlung und müssen bei der Dokumentation der Kinderschutzmeldung berücksichtigt werden:

• Gedeihstörung Gedeihstörung Gedeihstörung: suboptimale Gewichtszunahme und Wachstum bei Säuglingen und Kleinkindern auf standardisierten Wachstumskurven. Obwohl Vernachlässigung eine Hauptursache ist, müssen Ärzt*innen nach organischen Ursachen für die mangelnde Gewichtszunahme suchen und diese ausschließen.
• Osteogenesis imperfecta (OI) oder “Glasknochenkrankheit”: ein Spektrum von Bindegewebserkrankungen, die durch eine gestörte Knochenbildung und schwere Knochenbrüchigkeit gekennzeichnet sind. Bei Kindern mit OI kommt es in der Regel seit ihrer Geburt zu Frakturen bei Tätigkeiten mit geringer Belastung (z.B. Windelwechsel).
• Ehlers-Danlos-Syndrom Ehlers-Danlos-Syndrom Ehlers-Danlos-Syndrom (EDS): eine Bindegewebserkrankung, die aufgrund einer gestörten Kollagenproduktion zu leichten Blutergüssen führt. Das Vorhandensein von hyperextensibler Haut Haut Haut: Aufbau und Funktion und hypermobilen Gelenken bestätigt zusammen mit einem Gentest dieses Syndrom.
• Hämophilie Hämophilie Hämophilie: ein vererbter Mangel an Faktor VIII, IX oder XI, der zu Blutungen in tiefen Geweben führt, die große Blutergüsse vortäuschen können. In der Regel gibt es keinen Anhalt in der Anamnese eines leichten Traumas. Eine Blutuntersuchung auf den spezifischen Faktor diagnostiziert Hämophilie Hämophilie Hämophilie.
• Sakralflecken: ein angeborenes Muttermal Muttermal Primäreffloreszenzen der Haut, das am häufigsten im Lumbosakralbereich auftritt. Sakralflecken ähneln Blutergüssen, da sie bläulich-grün bis schwarz gefärbt und meist unregelmäßig geformt sind. Anamnese und Nachuntersuchung des Flecks können ihn von einem nicht versehentlichen Bluterguss unterscheiden.
• Xeroderma pigmentosum: eine X-chromosomale genetische Störung, die aufgrund eines fehlenden DNA-Reparaturmechanismus zu schweren Verbrennungen Verbrennungen Verbrennungen der Haut Haut Haut: Aufbau und Funktion führt, wenn diese UV-Licht ausgesetzt wird. Die Patient*innen leiden in der Regel unter ausgedehnten Sonnenbränden, Sommersprossen Sommersprossen Primäreffloreszenzen der Haut und Hautabschürfungen Hautabschürfungen Sekundäreffloreszenzen der Haut.
• Normale anatomische Varianten der männlichen und weiblichen Genitalien und des analen Schließmuskels bei Kleinkindern: umfasst Varianten der Hymenalkonfiguration, Septumreste, intravaginale Furchen, Analfissuren und perianale Hautanhängsel (Verstopfung), die Anzeichen von sexuellem Missbrauch simulieren können.