Akute Nierenschädigung

Als akute Nierenschädigung (AKI) bezeichnet man einen plötzlichen und oft reversiblen Verlust der Nierenfunktion, der sich über Tage oder Wochen entwickelt. Als Azotämie bezeichnet man erhöhte Werte von harnpflichtigen Substanzen im Blut, zu denen Harnstoff und Kreatinin gehören. Eine Urämie bezeichnet eine spezielle Konstellation von Symptomen, die bei einer schweren Nierenfunktionsstörung auftreten. Die Ätiologien der AKI werden als prärenal, intrarenal oder postrenal klassifiziert, und je nach Schwere der Nierenfunktionsstörung gibt es ein unterschiedliches klinisches Erscheinungsbild. Eine akute Nierenschädigung wird anfänglich durch eine Veränderung des Serumkreatininspiegels diagnostiziert, im Folgenden wird die Ätiologie durch Anamnese, Laboruntersuchungen, Bildgebung und möglicherweise Nierenbiopsie bestimmt. Die Behandlung einer AKI hängt von der Ätiologie ab; für eine erfolgreiche Therapie ist es allerdings immer wichtig, auf den Volumenstatus und die Serumelektrolyte der Person zu achten. Wenn die Behandlung nicht erfolgreich ist und die AKI zu einer CKD fortschreitet, ist eine Nierenersatztherapie mit Dialyse Dialyse Dialyseverfahren oder Nierentransplantation Nierentransplantation Organtransplantation erforderlich.

Aktualisiert: 16.02.2023

Redaktionelle Verantwortung: Stanley Oiseth, Lindsay Jones, Evelin Maza

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Überblick

Definition

Die akute Nierenschädigung beschreibt eine abrupte Abnahme der Nierenfunktion, die sich in einem Anstieg des Serumkreatininspiegels mit oder ohne verminderter Urinausscheidung manifestiert.

Klassifikation

Da es in den letzten Jahrzehnten mehr als 30 Definitionen des „akuten Nierenversagens“ existierten, einigte man sich auf den Begriff Acute Kidney Injury (AKI).

  • AKIN-Stadien; modifiziert durch die KDGIO (Kidney Disease: Improving Global Outcomes):
    • Ersetzt die anderen Staging-Systeme; derzeit bevorzugte Einteilung
    • Klassifizierung der Personen nach Kriterien, welche den vorliegenden höchsten Funktionsverlust angeben
    • Stufe 1:
      • Anstieg des Serumkreatinins ≥ 0,3 mg/dl innerhalb von 48 Stunden oder
      • Anstieg des Serumkreatinins um das ≥ 1,5 bis ≤ 2 -fache zur Baseline in den letzten 7 Tagen oder
      • Urinvolumen/Urinausscheidung < 0,5 ml/kg/h in 6 Stunden
    • Stufe 2:
      • Anstieg des Serumkreatinins um das ≥ 2 bis ≤ 3-fache zur Baseline oder
      • Urinvolumen/Urinausscheidung < 0,5 ml/kg/h in 12 Stunden
    • Stufe 3:
      • Anstieg des Serumkreatinins um das ≥ 3-fach zur Baseline oder
      • Serumkreatinin ≥ 4 mg/dl oder
      • Einleitung einer Nierenersatztherapie oder
      • Rückgang der geschätzten GFR< 35 ml/min/1,73 m2 bei Personen < 18 Jahren oder
      • Urinvolumen/Urinausscheidung < 0,3 ml/kg/h für 6 Stunden oder
      • Anurie ≥ 12 Stunden

Epidemiologie

  • In Europa: jährlich 200 pro 100.000 Einwohner ambulant betroffen
  • Inzidenz insgesamt: 500 pro 100.000 Einwohner
  • Entwicklung einer AKI bei 10 bis 20 % der stationär aufgenommenen Patient*innen
  • Entwicklung einer AKI bei 35 bis 60 % der Patient*innen auf Intensivstation
  • Mortalität von ca. 10 % bei einer unkomplizierter AKI
  • Mortalität von 40 %‒70 % bei einer mit Sepsis Sepsis Sepsis und septischer Schock und Multiorganversagen assoziierten AKI
  • Männer* = Frauen*
  • Häufiger in höherem Alter

Ätiologie und Pathogenese

Die Ursachen der akuten Nierenschädigung werden häufig in prärenale, intrarenale und postrenale Ätiologien unterteilt. Bei prärenalen und postrenalen Ursachen haben die Nieren Nieren Niere eine normale Anatomie, und eine Verletzung des Nierengewebes ist auf einen prärenalen oder postrenalen Auslöser zurückzuführen.

Normale Physiologie

  • Normalerweise Aufrechterhaltung der GFR durch Kompensationsmechanismen:
    • Afferente Arteriole des Glomerulus: Prostaglandin-Wirkung → Vasodilatation → Erhöhung des glomerulären hydrostatischen Drucks
    • Efferente Arteriole des Glomerulus: Angiotensin II-Wirkung→ Vasokonstriktion Vasokonstriktion Physiologie des Blutkreislaufs → Aufrechterhaltung oder Erhöhung des Drucks im Glomerulus
  • Bei verminderter Nierendurchblutung:
    • Aktivierung des Antidiuretisches Hormon (ADH) → erhöhte Natrium- und Wasseraufnahme im proximalen Tubulus → Konzentration des Urins
    • Erhöhung des Filtrationsanteils → Erhöhung des kolloidosmotischen Drucks im Glomerulus

Ätiologie

Pathophysiologie

Pathophysiologische Wirkungen einer AKI auf Elektrolyte Elektrolyte Elektrolyte und den Säure-Basen-Haushalt Säure-Basen-Haushalt Physiologie des Säure-Basen-Haushalts:

Klinik

Eine akute Nierenschädigung kann mit einer Vielzahl von Symptomen einhergehen, von asymptomatisch mit nur Laboranomalien bis hin zu einer komatösen Erkrankung aufgrund einer schweren Urämie.

Klinik bei einer Hypovolämie

Stehende Hautfalte

Stehende Hautfalte: Bei einem Volumenmangel bleibt die Haut nach dem Zusammenkneifen stehen. Ohne einen Volumenmangel würde sich die Haut sofort wieder glätten.

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Klinik bei einer Hypervolämie Hypervolämie Natrium- und Wasserregulation durch die Niere

Ödem der unteren Extremität

Ödem der unteren Extremität:
Dieses klinische Bild tritt z. B. bei Betroffenen mit Hypervolämie aufgrund einer AKI auf.

Bild: „Leg Edema 01“ von Wang Kai-feng et al. Lizenz: CC BY 2.0

Klinik bei einer Hyperkaliämie Hyperkaliämie Hyperkaliämie

Mögliche EKG-Veränderungen aufgrund von Hyperkaliämie bei Personen mit akuter Nierenschädigung

Mögliche EKG-Veränderungen aufgrund von Hyperkaliämie bei Personen mit akuter Nierenschädigung:
Im klinischen Alltag sind die EKG-Veränderungen bei Hyperkaliämie häufig variabler und weniger vorhersehbar.

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Klinik bei einer Hypokaliämie

  • Meist in Kombination mit einer Hypovolämie
  • Symptome:
    • Muskelkrämpfe
    • Ileus
  • Körperlichen Untersuchung:
    • Normalerweise unauffällig
    • Möglicherweise Muskelschwäche und Rhabdomyolyse Rhabdomyolyse Rhabdomyolyse bei schwerwiegenden Fällen
  • EKG-Veränderungen:
    • ST Depression
    • T Wellen-Abflachung
    • U Wellen
    • Verlängerung des QT-Intervalls
    • Zum Teil keine offensichtlichen EKG-Manifestationen
Mögliche EKG-Veränderungen bei Personen mit akuter Nierenschädigung, die eine Hypokaliämie aufweisen

Mögliche EKG-Veränderungen bei Personen mit akuter Nierenschädigung, die eine Hypokaliämie aufweisen

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Klinik einer Urämie

Asterixis

Asterixis: Möglicher Untersuchungsbefund bei Betroffenen mit Urämie infolge einer akuten Nierenschädigung.

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Klinik bei spezifischen Ätiologien einer AKI

Maculae und erythematöse Flecken unterschiedlicher Größe bei einer Person mit akuter interstitieller Nephritis

Maculae und erythematöse Flecken unterschiedlicher Größe bei einer Person mit akuter interstitieller Nephritis

Bild: „Acute interstitial nephritis induced by Dioscorea quinqueloba“ von Department of Internal Medicine, Chonnam National University Medical School, Gwangju. Lizenz: CC BY 4.0, bearbeitet von Lecturio.

Phasen der akuten Tubulusnekrose

Die akute Tubulusnekrose folgt einem charakteristischen klinischen Verlauf mit 3 Phasen.

Klinischer Verlauf von ATN

Klinischer Verlauf der akuten Tubulusnekrose

Bild von Lecturio. Lizenz CC BY-NC-SA 4.0

Diagnostik

Die Diagnostik im Rahmen einer akuten Nierenverletzung umfasst die Identifizierung von auslösenden Faktoren und die Feststellung, ob die Ätiologie prärenal, intrarenal oder postrenal ist, um eine angemessene Behandlung zu planen.

Anamnese und körperliche Untersuchung

Routinemäßige Labordiagnostik

  • Harnstoff im Serum und Kreatinin
  • Harnstoff/Kreatinin-Verhältnis:
    • Normalerweise ungefähr 15
    • Prärenal > 20
    • Intrarenal < 15
  • Elektrolytanomalien/ Hyperkaliämie Hyperkaliämie Hyperkaliämie
  • BGA/Bicarbonat bei metabolischer Azidose
  • NT-proBNP bei Herzinsuffizienz/Volumenüberladung
  • Urinanalyse:
  • Urin-Natrium (UNa+):
    • UNa+< 10 → prärenale Ursache
    • UNa+> 20 → intrarenale Ursache
  • Die fraktionierte Natriumausscheidung (FENa) wird berechnet, indem gleichzeitig Urin- und Plasmaproben von Na + und Kreatinin entnommen werden:
    • FENa < 1 % → prärenale Ursache
    • FENa > 1 % → intrarenale Ursache
FENa%=Urin Na×Serum KreatininSerum Na×Urin Kreatinin×100

Andere spezifische Tests

Bildgebung

Parameter zur Unterscheidung zwischen prärenaler und renaler AKI

Tabelle: Parameter zur Unterscheidung zwischen prärenaler und renaler AKI
Prärenal Renal (ATN)
Spezifisches Gewicht ≥ 1.020 ≤ 1.010
Urinosmolalität (mOsm/kg) > 500 < 350
Natrium im Urin (mEq/l) < 20 > 20
FENa < 1 % > 1 %
Proteinurie Minimal Minimal bis schwer, je nach Ätiologie
ATN: akute Tubulusnekrose
FENa: fraktionierte Ausscheidung von Natrium

Urinmikroskopische Befunde

Tabelle: Urinmikroskopische Befunde
Befund Bedeutung
Nierentubuluszellen Akute tubuläre Verletzung
Erythrozyten Erythrozyten Erythrozyten Nichtglomeruläre Blutungen/Blutungen entlang der Harnwege
Dysmorphe Erythrozyten Erythrozyten Erythrozyten Glomeruläre Erkrankung
Erythrozytenzylinder Glomeruläre Erkrankung
Leukozyten Infektion der Harnwege
Leukozytenzylinder Nephritis
Hyaline Zylinder Unspezifisch; auch bei Gesunden möglich
Granulierte Zylinder Nephropathie
Epithelzylinder Nekrotische tubuläre Zellen/ akute tubuläre Verletzung

Therapie

Die Ätiologie einer akuten Nierenschädigung diktiert die Behandlung; weitere Tests mit Biopsie können angezeigt sein, nachdem eine angemessene Abklärung und die Behandlung von einer Hypovolämie oder einer Hypervolämie Hypervolämie Natrium- und Wasserregulation durch die Niere abgeschlossen sind.

Behandlung

Monitoring

  • Erholungsphase: Senkung des Serumkreatinin auf den Ausgangswert oder auf einen neuen „Steady State“ im Falle von dauerhaften Schäden
  • Überwachung der Genesung:
    • Ausschluss einer bereits davor vorherrschenden CKD:
      • Zuvor erhöhtes Kreatinin
      • Kleine Nieren Nieren Niere im Nierenultraschall
      • Proteinurie
    • Zumindest geringfügige Verschlechterung der Serum-Kreatinin-Baseline der Patient*innen bei jeder nachfolgenden AKI-Episode
  • Bei Vorliegen einer CKD: enge Anbindung an eine nephrologische Praxis
  • Komplikationen: mögliche Neuentwicklung einer CKD

Differenzialdiagnosen

  • Nierensteine: harte Ablagerungen aus Mineralien und Salzen, die sich in den Nieren Nieren Niere bilden. Patient*innen sind oft asymptomatisch, bis die Nierensteine in den Ureter wandern. Die Klinik besteht aus starken Flankenschmerzen, Hämaturie und/oder Harnwegsinfektionen. Die Diagnose erfolgt durch Klinik, Urinanalyse und Bildgebung. Zum Teil passiert der Stein von selbst den Harntrakt Harntrakt Harntrakt oder es ist ein Eingriff mit Lithotripsie oder Operation erforderlich.
  • CKD: Nierenschädigung oder geschätzte GFR (eGFR) < 60 ml/min/1,73 m2 für ≥ 3 Monate. Die Symptome hängen von der Ursache ab: prärenal, intrarenal oder postrenal. Die Diagnose umfasst eine detaillierte Blut- und Urinuntersuchung mit zusätzlichen Screening-Tests. Im Rahmen der Therapie erfolgt die Anpassung der Medikamentendosen an die eGFR und die Vorbereitung auf eine Nierenersatztherapie.
  • Harnwegsinfektion Harnwegsinfektion Harnwegsinfektion: Infektion eines beliebigen Teils des Harnsystems, häufiger bei Frauen* vorkommend. Die Betroffenen haben häufiges und schmerzhaftes Wasserlassen, Fieber Fieber Fieber, Schüttelfrost, Hämaturie und/oder Bauch- und Rückenschmerzen Rückenschmerzen Rückenschmerzen. Die Diagnose wird vor allem klinisch und ergänzend durch eine Urinanalyse mit einer Urinkultur Urinkultur Harnwegsinfektion gestellt. Als Therapie wird den Patient*innen viel Flüssigkeit und meistens Antibiotika verabreicht.

Quellen

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  2. Goyal, A., et al. (2020). Acute kidney injury. StatPearls. https://www.ncbi.nlm.nih.gov/books/NBK441896/ (Zugriff am 24.07.2021)
  3. Ostermann, M., Joannidis, M. (2016). Acute kidney injury: Diagnosis and diagnostic workup. Critical Care. 20, 299. https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pmc/articles/PMC5037640/
  4. Khwaja, A. (2012). KDIGO clinical practice guidelines for acute kidney injury. Nephron Clinical Practice. 120(4), c179–84. https://www.karger.com/Article/FullText/339789
  5. Chawla, L.S., et al. (2017). Acute kidney disease and renal recovery: Consensus report of the Acute Disease Quality Initiative (ADQI) 16 Workgroup. Nature Reviews. Nephrology. 13(4), 241–57. https://core.ac.uk/reader/84041861?utm_source=linkout 
  6. Palevsky, P. (2021). Definition and staging criteria of acute kidney injury in adults. https://www.uptodate.com/contents/definition-and-staging-criteria-of-acute-kidney-injury-in-adults (Zugriff am 23.02.2021)
  7. Mount, D.B. (2020). Clinical manifestations of hyperkalemia in adults. https://www.uptodate.com/contents/clinical-manifestations-of-hyperkalemia-in-adults (Zugriff am 27.07.2021)
  8. A.Bienholz. A.Kribben. (2013). Nephrologe 2013. Springer-Verlag. KDIGO-Leitlinien zum akuten Nierenversagen. https://link.springer.com/content/pdf/10.1007/s11560-013-0752-1.pdf (Zugriff am 18.11.2022)
  9. Carsten William. (2014). Springer Medizin. Akutes Nierenversagen(AKI), Diagnostik. https://www.springermedizin.de/emedpedia/dgim-innere-medizin/akutes-nierenversagen-aki-diagnostik?epediaDoi=10.1007%2F978-3-642-54676-1_74 (Zugriff am 18. 11.2022)
  10. Deximed. M. Handke. (2021). Akutes Nierenversagen (AKI=Acute Kidney Injury). https://deximed.de/home/klinische-themen/niere-harnwege/krankheiten/nierenerkrankungen/nierenversagen-akutes (Zugriff am 08.12.2022)
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